Wintermörder - Roman
Käfig eingesperrt. Obwohl ich keine Stäbe sehe.«
»Du weißt, was ich meine.«
Hannah Roosen ging vorbei und warf ihnen einen neugierigen Blick zu. Henri beachtete sie nicht. Er griff nach Myriams Schulter und zog sie näher an sich heran. »Was hast du vor? Ich sehe es dir an, dass du etwas ausheckst.«
»Bilde dir nicht ein, mich bereits nach einer Nacht so gut zu kennen, dass du in meinen Augen lesen kannst.«
Der Fahrstuhl würde gleich da sein.
»Ich beobachte dich seit Monaten. Ich kenne dich inzwischen gut genug.«
»Lass mich los!«
Die Fahrzeugtür öffnete sich, doch Henri hielt sie weiter fest. Ein Beamter ging an ihnen vorbei. Es wäre verdammt peinlich, wenn die Staatsanwältin sich vom Hauptkommissar losriss, um im Aufzug zu verschwinden.
Wenn Henri schon nicht die Form wahrte, dann wenigstens sie selbst. Die Aufzugtür schloss sich wieder, ohne dass sie eingestiegen war.
»Verdammt«, zischte sie, »ich muss jetzt los.«
In diesem Moment schlug sein Handy Alarm.
»Wohin?«, fragte er ungerührt.
»Das sage ich dir, wenn ich es weiß. Willst du nicht rangehen?«
»Nein.«
Myriam nahm sein Handy aus der Brusttasche und schaltete auf Empfang. Eine aufgeregte Stimme am anderen Ende.
Pure Verzweiflung, Angst, die das Herz einschnürte, den Atem abschnitt.
»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte Myriam und hob die Hand, um Henri zu signalisieren, dass etwas passiert war. »Was ist los?«
Die Stimme am anderen Ende war über den ganzen Flur zu hören.
»Keine Sorge«, sagte Myriam. »Wir lassen Sie nicht im Stich. Denise und Frederik wird nichts passieren. Ich verspreche es Ihnen.«
Sie beendete das Gespräch.
Wer war sie denn, dass sie immer wieder solche Versprechen gab? Ein Schamane, ein mittelalterlicher Scharlatan, ein Gaukler? Wieder krähte kein Hahn.
»Das war Carl Winkler. Denise hat die Waffe aus dem Safe mitgenommen.«
Carl Winkler saß im schwarzen Mantel im Büro von Hannah Roosen. Seine Hände zitterten, als er die Brille abnahm und sich über die Augen strich.
»Warum tut sie das? Warum tut Denise so etwas?«, wandte er sich an Myriam. »Sie … Sie müssen das doch wissen. Sie kennen sie besser als ich.«
»Wir hatten jahrelang keinen Kontakt.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er leise. »Ich auch nicht. Nicht mehr, seit ihre Mutter gestorben ist. Sie hat mir vorgeworfen, dass es meine Schuld war.«
»Es gibt keine Schuld«, sagte Hannah Roosen.
Myriam schaute zweifelnd in ihre Richtung. Natürlich gab es Schuld. Jemand war verantwortlich. Das war es schließlich, was uns zum Menschen machte. Dass wir Verantwortung übernahmen für unsere Taten. Ohne das gab es keine Kultur, und ohne Kultur blieb nur der Dschungel und damit die Freiheit, dem anderen den Schädel einzuschlagen, um daraus zu trinken.
»Erzählen Sie von Ihren Eltern.« Hannah Roosen war ganz Psychologin. »Ihre Mutter liebte Kunst und Musik. Sie hat Bilder gesammelt, Klavier gespielt.«
»Die Musik. Ich habe keine Begabung dafür, aber Denise.«
»Was haben Ihre Eltern über den Krieg erzählt?«, fragte Myriam. Es wurde Zeit, dass sie zur Sache kamen. Es traf sie ein strafender Blick von Hannah.
»Frankfurt wurde fast vollständig zerstört. Danach gab es viel aufzubauen, viel zu tun. Angesichts der Zerstörung der deutschen Städte hatten sie Pläne, waren sie sicher, dass sie Erfolg haben würden. Es war eine große Herausforderung.«
»Das war nach dem Krieg«, entgegnete Myriam. »Was war in der Zeit zwischen 1933 und 1945? Haben Sie nie darüber gesprochen? Über die Kriegsprojekte, an denen Ihre Eltern beteiligt waren?«
»Kriegsprojekte? Welche Kriegsprojekte? Wie das klingt.«
»Bereits 1930 wurde mit dem Führerbunker in Bad Nauheim begonnen, an dem die Firma Winklerbau nachweislich beteiligt war, 1935 kam der Autobahnabschnitt Frankfurt — Darmstadt, 1945 der Flughafen Frankfurt. Das sind die wichtigsten Projekte. Am Flughafen wurden weibliche Zwangsarbeiterinnen aus Auschwitz eingesetzt. Wussten Sie das?«
Carl Winkler wischte sich mit der Hand über die Augen. »Wie soll ich das wissen?«
»Sie haben die Firma schließlich übernommen. Sie haben die Verantwortung.«
»Übernommen?« Winkler schüttelte den Kopf »Ich habe sie nicht übernommen. Meine Mutter hatte bis zu ihrem Tod sechzig Prozent der Anteile. Den Rest teile ich mir mit Denise. Als sie sich zurückzog, hat sie die offizielle Leitung Oliver übergeben. Ich war im Grunde genommen nur ein Lückenbüßer.«
»Das haben
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