Wintermörder - Roman
auf.«
»Ich höre auf«, stammelte Myriam.
»Gut.«
Dann spürte sie etwas in ihrem Haar. Jemand zog daran. Ihr Kopf wurde nach hinten verdreht. Der Schmerz riss etwas entzwei. Schritte entfernten sich.
Myriam wusste nicht, wie lange sie auf der Treppe kniete. So musste sich jemand fühlen, der kurz vor der Hinrichtung war. Sie spürte, dass Blut am Kinn hinunterlief. Mühsam richtete sie sich auf. Der Schmerz im Bein kehrte zurück, als sei das Knie in der Mitte auseinandergebrochen. Dann schleppte sie sich allein durch das Treppenhaus hoch in ihre Wohnung.
Als sie endlich in Sicherheit war, drehte sie zweimal den Schlüssel um. Ihr Blick fiel in den Spiegel im Flur. Sie hatte das Gefühl, dass ihre linke Kopfhälfte fehlte. Bis sie begriff, dass er ihr auf dieser Seite die Haare abgeschnitten hatte.
Sie blieb eine Weile vor dem Spiegel stehen und starrte sich an. Ihre Lippe blutete noch immer heftig. Eine rote Spur lief den rechten Mundwinkel herab und tropfte auf ihre Bluse, die das Rot aufsaugte. Allmählich setzte auch hier der Schmerz ein. Sie konnte den Mund nicht öffnen.
Langsam schleppte sie sich ins Wohnzimmer. Jede Bewegung tat entsetzlich weh. Sie sank auf das Sofa und erschrak, als sie sich selbst stöhnen hörte. Sie zog die Wolldecke vom Boden hoch und wickelte sich ein. Doch das Zittern wurde nicht besser. Die Kälte verschwand nicht.
Sie war überfallen worden.
Zwei Männer hatten sie verfolgt, ihr aufgelauert, sie angegriffen, sie auf die Knie gezwungen, ihr die Lippen verletzt. Einer hatte ihr die Haare abgeschnitten.
Dahinter stand Verachtung und das Bedürfnis zu bestrafen.
Die Strafe für Frauen.
Sie hatte sich der Gewalt gebeugt. War vor ihm auf die Knie gefallen.
Das traf sie härter als alles andere. Immer wieder griff ihre Hand an den Kopf, der sich seltsam kahl anfühlte. Ihre Haare waren zusammengeschrumpft wie ihr Innerstes.
Als das Telefon klingelte, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass sie die Polizei rufen musste. Wie oft hatte sie schon Opfer vor Gericht gefragt, weshalb sie so spät Hilfe geholt hatten. Jetzt verstand sie es. Gerade weil sie so hilflos, so verdammt auf jemanden angewiesen war, schreckte sie davor zurück. Es war die nächste Demütigung. Wem wollte sie sich so zeigen? So verletzt? So erniedrigt?
Das Telefon hörte auf zu klingeln. Der Anrufer gab auf.
Dann begann das Handy im Flur Chopin zu spielen. Aufdringliches Geklimper. Mühsam erhob sie sich. Der Schmerz jagte erneut durch das Knie, und sie schrie auf. Fest in die Decke eingewickelt, schleppte sie sich in den Flur. Die Handtasche lag vor dem Spiegel. Als sie auf den grünen Hörer drückte und Henris Stimme hörte, konnte sie plötzlich nicht mehr atmen.
Er redete und redete und merkte nicht, dass etwas nicht stimmte, dass sie keine Antwort gab.»Denise Winkler hat ein Zimmer im Hotel Amadeus gebucht, ist dort aber nicht angekommen.«
Erst, als er keine Antwort bekam, fiel ihm auf, dass etwas nicht in Ordnung war, und fragte: »Was ist los?«
Myriam saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, das Bein ausgestreckt auf einem Klappstuhl. Henri hatte den Krankenwagen und Ron Fischer mitgebracht, der sie mitleidig beobachtete. Das erste Mal hatte sie das Gefühl, von ihm akzeptiert zu werden.
»Es ist doch nichts passiert«, wiederholte Myriam. »Ich habe nur nicht damit gerechnet.«
»Ist Ihnen der Wagen schon einmal aufgefallen?«, fragte Fischer. Sie hatte ihn bisher immer nur aus der Distanz betrachtet. Als er jetzt vor ihr saß, den Oberkörper zu ihr gebeugt, seine Hand auf ihrem Arm, fiel plötzlich alle Aggression gegen ihn von ihr ab. Und es beruhigte sie, dass Henri nervös im Zimmer auf und ab rannte und eine Zigarette nach der anderen rauchte.
»Haben Sie den Wagen schon einmal gesehen?«, wiederholte Fischer seine Frage.
»Ja, ich glaube. Die letzten Tage irgendwann stand ein ähnlicher weißer Opel hier vor der Tür.«
»Du hast ihn bemerkt und mir nichts erzählt?«, rief Henri. »Ich glaube, du bist total …!«
»Wann genau?«, unterbrach ihn Fischer.
»Ich glaube, am Montag.«
»Ist Ihnen in letzter Zeit sonst noch etwas aufgefallen, das Ihnen seltsam vorkam?«
Myriam seufzte. Sie wollte nicht, dass die Sache dramatisiert wurde.
Henri trat hinter sie und legte seine Hand besitzergreifend auf ihre Schulter: »Da war noch etwas, oder?«
»Anrufe, immer wieder Anrufe auf dem Anrufbeantworter. Niemand meldete sich. Und eine zerschnittene Zeitung vor meiner Tür.«
Henri
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