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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Doch Myriam konnte nicht ertragen, wie er aus der Wirklichkeit floh. Sie wusste, dass er Drogen nahm, wenn er Musik machte. Immer wieder hatte er erklärt, dass es normal sei, dass nicht die Gefahr einer Abhängigkeit bestand.
    Als er zu schreien anfing, war sie im Gegensatz zu Denise in Panik geraten.
    Hatte sie Schuld, nur weil sie sich Sorgen gemacht hatte?
    Weil sie Verantwortung übernahm? Die Dinge nicht einfach laufen ließ?
    Sie hatte doch nicht gewusst, welche Folgen es nach sich zog. Sie hatte nur Mike gesehen, der kaum Luft bekam, der sich übergab, als würde er sein Innerstes auskotzen, und nach Wasser schrie. Er schlug auf Denise ein, die versuchte ihn festzuhalten.
    »Ich will fliegen«, hatte er geschrien. »Fliegen! Jeden Ton will ich fliegen. Der Akkord dort, er schwebt. Ich kann ihn sehen. Ich kann die Musik sehen. Sie fliegt in meine Augen. Sie fliegen in meine Augen, die Töne. Wie Blitze.«
    Der Einweisung in die Psychiatrie folgte ein Prozess wegen Verstoßes gegen das Rauschmittelgesetz. Er flog von der Schule. Zwei Monate später wurde er aus der Psychiatrie entlassen und warf am nächsten Tag den Föhn in die Badewanne. Zwei Wochen vor dem Abitur.
    War sie schuld, weil sie den Krankenwagen gerufen hatte? Wurde man so schnell schuldig am Tod eines Menschen?
    Ihr Herz begann wie wild zu schlagen, wie immer, wenn sie Mikes Tod nicht verdrängte, sondern die Erinnerung so klar vor ihren Augen stand, wie sein Horrortrip damals für ihn die Realität gewesen war.
    Noch immer klebte der Opel hinter ihr an der Stoßstange. Verdammt, warum überholte er nicht?
    An der nächsten Nebenstraße bog sie ab und fuhr an den Straßenrand. Der Opel folgte, blieb ebenfalls stehen.
    War das Zufall?
    Er löschte das Licht.
    Myriam begann, am ganzen Körper zu zittern. Man konnte auch unter Wahnvorstellungen leiden, wenn man kein LSD geschluckt hatte. Weil alles zu viel war. Sie löste die Handbremse, blinkte und fuhr langsam weiter. Sie befand sich nicht weit von der Messe und würde gleich zu Hause sein.
    Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Wagen ihr weiter folgte. Myriam schloss kurz die Augen und schaute dann nicht mehr zurück, bis sie vor ihrem Haus angekommen war. Sie hatte Glück. Direkt davor gab es noch einen Parkplatz. Der Opel fuhr vorbei und bog am Ende der Straße ab.
    Myriam stieg aus und verriegelte die Fahrertür. Der kräftige Wind blies ihr die Nässe ins Gesicht. Das ganze Haus lag im Dunkeln. Fast wäre sie vor Aufregung über den Schnee gestolpert, der sich am Rande des Gehsteiges türmte. Sie hielt sich am Wagen fest und prüfte, ob tatsächlich alle Türen verschlossen waren. Dann erst ging sie zur Haustür, schaltete das Licht an und suchte die Schlüssel in den Tiefen der Handtasche.
    Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Als sie ihn zum zweiten Mal umdrehte, nahm sie hinter sich eine Bewegung wahr. Schuhe knirschten im Schnee. Sie stieß die Tür auf, doch schon riss es ihr die Beine weg. Sie fiel auf die Knie. Vor Schmerz vergaß sie, um Hilfe zu rufen. Sie war damit beschäftigt, wieder aufzustehen. Ein lautes Atmen an ihrem Ohr, Mundgeruch und eine Stimme, die stöhnte. Nein, nicht stöhnte, sondern etwas zischte. Es klang wie Hure, wie Luder, wie Schlampe, wie Flittchen. Dann wurde ihr der Arm nach hinten gedreht. Der Ärmel einer schwarzen Jacke rutschte nach oben. Ein haariger Handrücken, in den ein schwarzer Vogel tätowiert war. Sie ging wieder in die Knie und hörte ein Flüstern: »Gib Ruhe, oder ich fick dich durch, bis mein Schwanz zu deinem Nabel herauskommt.«
    Jemand lachte laut. Er war nicht allein.
    »Ich schreie.« Myriam fand ihre Stimme wieder. »Lassen Sie mich los, oder ich schreie.«
    Das Licht ging aus. In der Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Ihre Hand tastete nach dem Schalter, doch jemand drehte ihr wieder den Arm nach hinten. »Wenn du den Mund nur einen Spalt öffnest, dann kannst du dieses Messer fressen.«
    Etwas Kaltes wurde an ihre Lippen gepresst. Ein kurzer Schmerz. Blutgeschmack im Mund.
    Sie fiel erneut zu Boden. Ihre Knie trafen die Kante der Treppenstufe. Sie schrie auf.
    »Hör auf, dich in Dinge zu mischen, die du nicht verstehst, eingebildete Fotze.«
    »Welche Dinge?«
    »Hör auf!« Die Stimme war nur noch ein Zischen, und Myriam wunderte sich, dass sie daraus noch so etwas wie Worte, ja sogar einen Sinn erkennen konnte.
    »Sag es: Ich höre auf!«
    »Ja«, stieß Myriam hervor.
    »Nein, sag es: Ich höre

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