Wintermörder - Roman
Winkler.
Von dem Mitleid, das sie angesichts der Leiche der alten Frau empfunden hatte, war nichts mehr übrig. Alt zu sein, mildert die Schuld nicht. Vielleicht wäre Henriette Winkler nicht mehr verhandlungsfähig gewesen, aber die Schuld nahm sie mit ins Grab.
Wie dumm von Denise, dass sie die Waffe mitgenommen hatte. Wie dumm. Was, verdammt noch mal, war ihr nur durch den Kopf gegangen?
Myriam war der festen Überzeugung, dass in der Kassette, die jetzt im Familiengrab lag, diese Briefe waren, von denen Frau Hirschbach gesprochen hatte. Diese Briefe konnten sie zu dem Mann führen, der Henriette Winkler getötet hatte, und, was viel wichtiger war, zu Frederiks Entführer. Sie schob den Gedanken an den Jungen beiseite, dachte gleichzeitig, dass er viel zu sehr verdrängt wurde.
Henriette Winkler hatte keine Schuldgefühle gehabt, sonst hätte sie die Dokumente nicht mit ins Grab nehmen wollen.
Aus ihrem Verhalten sprach Trotz.
Und die Arroganz ihrer Generation.
Sie hatte weder Selbstzweifel noch Skrupel gekannt.
Myriam lehnte sich im Stuhl zurück.
Aber, und das war ein Glück, die Unterlagen waren nicht in einem Archiv, sondern in einem Grab. Der einzige Schutz waren der Grabdeckel und die Persönlichkeitsrechte. Doch sie hatte schließlich nicht vor, Leichenteile von Henriette Winkler zu stehlen. Sie würde das Grab nicht schänden. Und sie plante auch nicht, Henriette Winklers Ansehen zu beschädigen. Alles, was sie wollte, war die Wahrheit herauszufinden, denn in ihr lag der Schlüssel zu Frederik.
Sie war die ermittelnde Staatsanwältin. Es ging letzten Endes um die Abwägung von Gütern. Sie musste einen Präzedenzfall schaffen, eine juristische Geheimtür finden. Es musste nicht bedeuten, dass sie das Gesetz umging. Aber selbst wenn sie im Begriff war, ihrer Karriere den Todesstoß zu versetzen, sah sie keinen anderen Ausweg. Denn die Frage, was mehr zählte, das Ansehen einer fünfundachtzigjährigen Frau oder das Leben eines Kindes, war leicht zu beantworten.
Dennoch: Hillmer würde ihre Suspendierung forcieren.
Um das zu verhindern, musste sie mit Carl Winkler sprechen.
»Nein!« Carl Winklers Stimme klang so entschieden wie noch nie. »Ich verbiete es!«
Myriam schloss kurz die Augen und überdachte ihre Entscheidung noch einmal. Doch sie kam zu keinem anderen Schluss. »Ich muss.«
»Sie können meine Mutter nicht exhumieren lassen, nur um an die Dinge heranzukommen, die sie mit ins Grab nehmen wollte. Ihr letzter Wille ist heilig.«
»Nichts ist mir heilig, wenn ich das Leben eines Kindes schützen muss. Ich werde es in jedem Fall tun, ob Sie zustimmen oder nicht.«
»Ich werde in keinem Fall zustimmen.«
»Dann muss ich alleine die Verantwortung übernehmen.«
»Was gibt Ihnen das Recht dazu?«
»Ich glaube, dass die Kassette wichtige Beweismittel enthält. Laut Frau Hirschbach hat Ihre Mutter immer wieder Briefe erhalten. Ich bin die ermittelnde Staatsanwältin und besitze die Befugnis, diese Entscheidung zu treffen. In einem Mordfall können Sie als Angehöriger schließlich auch nicht bestimmen, ob wir Ihre Mutter obduzieren oder nicht. Das ist Teil der polizeilichen Ermittlungen. Wir werden Ihre Mutter nicht anfassen. Es geht nur um die Unterlagen. Sie zu prüfen wird nicht länger als eine halbe Stunde dauern.«
»Es geht um die Totenruhe meiner Mutter.«
»Es geht einzig und allein um Frederik. Wovor haben Sie Angst? Dass Ihre Mutter wieder aus dem Grab steigt? Sie ist tot, aber Frederik lebt hoffentlich.«
»Dem werde ich nie zustimmen.«
»Dann muss ich es darauf ankommen lassen. Die Exhumierung findet morgen früh um halb neun statt.«
Die Scheibenwischer zogen ihre Bahn, kamen gegen den zunehmenden Schneefall jedoch kaum an. Die Stadt war so unwirklich wie in einer Filmszene. Es fehlte nur die Hintergrundmusik. Der Wagen hinter ihr klebte an der Stoßstange. Das Wort »Abstand« hatte der Fahrer wohl nie gehört. Myriam fuhr langsamer, um ihm die Gelegenheit zu geben, zu überholen, doch er reagierte nicht.
So ein Idiot!
Wofür gab es denn die vierspurige Straße?
Hatten sie alles getan, um Frederik zu finden? Konnte man genug tun, wenn ein Kind verschwunden war? Denise war verantwortungslos. Sie unterlief ihre Arbeit und die der Kriminalpolizei.
War das ihre Rache? Als sie damals Mike im Probenraum der Schule angetroffen hatten, befand er sich in einem LSD-Rausch, der so extrem war, dass er sie nicht mehr erkannte. Denise hatte sich einfach neben ihn gesetzt.
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