Wintermörder - Roman
»Ich lade Sie zu einem Kaffee ein. Ich glaube, wir müssen hier gleich links.«
Auch dieser Raum war bis auf ein uraltes Ehepaar am anderen Ende leer. Sie folgte Kadow zu einem kleinen Tisch am Fenster, von dem aus man den Platz vor dem Hotel im Auge hatte.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich hole Ihnen einen Kaffee. Möchten Sie etwas zu essen oder …«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Er stand eine Sekunde unschlüssig da, als wolle er sie überzeugen, dass sie etwas zu sich nehmen musste, doch dann überlegte er es sich anders und ging hinüber zum Frühstücksbüfett.
Obwohl die Sonne schien, spürte sie die Kälte durch die Fensterscheiben, und Myriam dachte, dass das Licht in dieser Stadt etwas Besonderes war. Es brachte die alten Gebäude besser zur Geltung, als es Scheinwerfer vermochten.
Das Radio spielte
Hello darkness my old friend
, während unaufhörlich Passanten die Straße überquerten, die zu der Kirche gegenüber des Hotels führte. Wie die Häuser dieser Stadt, so waren auch die Menschen: Hinterhofgestalten, Trinker in verschmutzter Kleidung, alte Frauen in geblümten Kopftüchern, zahnlos, die Münder verschlossen, gebückt vor Kälte, dann wieder eine Grande Dame, ein Geschäftsmann, das Handy ans Ohr gepresst, als gäbe es Wärme ab. So unterschiedlich sie waren, zwei Dinge hatten sie gemeinsam. Alle waren in Eile, und alle waren beladen mit undefinierbaren Taschen, Gepäckstücken, Rucksäcken. Ein Volk, das seinen Besitz noch immer auf dem Rücken transportierte.
Sie versuchte, Kadow einzuschätzen, indem sie ihn beobachtete. Seine selbstsichere Art, sich zu bewegen, gefiel ihr.
»Warum tun Sie das?«, fragte sie, als er zurückkam.
»Was?«, fragte er verwundert zurück und nahm ihr gegenüber Platz.
»Mir helfen. Ich habe heute Nacht so viele Leute angerufen, doch niemand wollte mir zuhören.«
»Wir Polen sind ein misstrauisches Volk, das liegt an unserer Geschichte«, lächelte er. »Besser Sie gewöhnen sich gleich daran.«
Er reichte ihr die Tasse Kaffee und blickte sie an. Seine braunen Augen hatten etwas an sich, das ihr Vertrauen
einflößte. Wenn es so etwas überhaupt noch gab. Vertrauen.
»Sie haben Ihren Vater erreicht?«
»Ich habe ihn heute Morgen angerufen.«
»Ist er bereit, mit mir zu sprechen?«
»Nein.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Er weigert sich.«
In Denise brach die Hoffnung wie ein Kartenhaus zusammen. Ebenso schnell und ebenso lautlos. »Warum?«, fragte sie und spürte die Verzweiflung in ihrer Stimme.
Kadow schwieg einen Moment, und als er dann fortfuhr, klang seine Stimme bitter: »Sie dürfen ihm das nicht übel nehmen. Die Sache damals mit der
Galeria
…«
»Welche Galerie?«
»Das Einkaufszentrum«, erklärte er.
Denise nickte. »Was war damit?«
»Es gab damals einen Riesenärger, weil man einen der Arbeiter beschuldigte, er habe fahrlässig gehandelt, aber alle Kollegen meines Vaters stellten sich vor ihn und behaupteten, es sei Brandstiftung gewesen.«
»Also doch Brandstiftung!«
Er zuckte mit den Schultern. »Der deutsche Bauleiter hat den Leuten verboten, darüber zu sprechen.«
»Warum?«, fragte sie verwirrt.
Kadow beugte sich nach vorne und senkte die Stimme, obwohl sie inzwischen allein im Raum waren. »Wissen Sie, man hält uns für dumm. Aber es war jedem klar, dass es sich um Brandstiftung handelte. Dennoch hielt die Bauleitung an der Behauptung fest, es sei Fahrlässigkeit gewesen. Offenbar hat Herr Winkler …«
»Oliver Winkler?«
»Ja, ist er Ihr Vater?«
Denise beantwortete die Frage nicht, stattdessen starrte sie auf die Kirche, die jedoch keinen Trost spendete. »Was hat er?«, fragte sie schließlich nach kurzem Schweigen.
Kadow stellte die Tasse ab. »Die Versicherung zahlt nicht, wenn es sich um Brandstiftung handelt, verstehen Sie.«
»Und die Polizei? Die Versicherung? Die erstellen doch eigene Gutachten.«
Marek Kadow lachte amüsiert auf. »Sie kennen unsere polnische Polizei nicht. Die machen das, was der Bürgermeister will, und der Bürgermeister will westliche Investoren in der Stadt. Das ist das ganze Geheimnis.« Seine Hand zerknüllte die Serviette auf seinem Platz. »Unsere Arbeiter fahren nach Deutschland, arbeiten für Mindestlöhne, und deutsche Architekten, Bauingenieure und Investoren planen unsere Stadt. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Am Bahnhof wurde auf die gleiche Weise ein ganzes Viertel aus dem Boden gestampft.«
Denise begann zu
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