Wintermond
Notizblock an einem so seltsamen Ort verstaut hatte, mußte man davon ausgehen, daß er ihn hatte verstecken wollen. Fernandez mußte den Inhalt als wichtig und äußerst persönlich erachten, und Heather wollte nicht in seine Privatsphäre eindringen. Auch wenn er tot war, war er doch immerhin ein Wohltäter, der ihr Leben radikal verändert hatte; er verdiente ihren Respekt und ihre Verschwiegenheit. Sie las die ersten paar Worte auf der obersten Seite - Mein Name ist Eduardo Fernandez - und blätterte die restlichen Seiten durch um zu bestätigen, daß sie von Fernandez geschrieben worden waren und es sich um eine längere Aufzeichnung handelte. Mehr als zwei Drittel des Blocks waren mit der ordentlichen Handschrift gefüllt. Heather unterdrückte ihre Neugier und legte den Block auf den Kühlschrank, um ihn beim nächstenmal, wenn sie ihn sah, Paul Youngblood zu geben. Der Anwalt kam dem am nächsten, was man als Freund Fernandez' bezeichnen konnte, und hatte sich beruflich um die Angelegenheiten des alten Mannes gekümmert. Falls der Inhalt des Notizblocks wichtig und privat war, hatte nur Paul das Recht, ihn zu lesen. Nachdem sie die Bestandsaufnahme der Tiefkühlkost abgeschlossen hatte, schenkte sie sich eine Tasse frischen Kaffee ein, setzte sich an den Küchentisch und machte eine Liste der Lebensmittel und Haushaltswaren, die sie benötigten. Morgen früh würden sie nach Eagle's Roost fahren und nicht nur den Kühlschrank, sondern auch die halbleeren Regale der Speisekammer wieder auffüllen. Sie wollte vorbereitet sein, wenn sie im Winter vom tiefen Schnee länger von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Sie hielt bei der Liste inne, um sich eine Notiz zu machen. Jack mußte nächste Woche einen Termin bei Parkers Werkstatt machen, damit der Explorer mit einem Schneeflug ausgestattet wurde. Als sie dann ihre Liste fortsetzte und am Kaffee nippte, lauschte sie auf jedes ungewöhnliche Geräusch. Aber die vor ihr liegende Aufgabe war so alltäglich, daß sie beruhigend wirkte. Nach einer Weile war Heather nicht mehr im geringsten unheimlich zumute. Toby stöhnte leicht im Schlaf.
»Geh weg...« sagte er. »Geh...geh weg...«
Nachdem er eine Weile verstummt war, schlug er die Bettdecke zurück und stand auf. Im rötlichen Schein des Nachtlichts schien sein blaßgelber Schlafanzug blutbefleckt zu sein. Er blieb neben dem Bett stehen und wiegte sich hin und her, als hielte er Takt mit einer Musik, die nur er hören konnte.
»Nein«, flüsterte er, nicht beunruhigt, sondern mit leiser, regungsloser Stimme. »Nein...nein...nein...«
Er verstummte wieder, ging zum Fenster und sah in die Nacht hinaus. Hinter dem Hof, an die Kiefern des Waldrands geschmiegt, war die Wohnung des Hausmeisters nicht mehr dunkel und verlassen. Ein seltsames Licht, von so reinem Blau wie eine Gasflamme, schoß aus Ritzen zwischen den Sperrholzplatten, die die Fenster bedeckten, unter der Tür und sogar aus dem Schornstein des Kamins in die Nacht hinaus.
»Ah«, sagte Toby.
Das Licht blieb nicht konstant intensiv, sondern flackerte und pochte mitunter. Gelegentlich waren selbst die schmalsten der aus dem Haus dringenden Strahlen so hell, daß es in den Augen schmerzte, sie zu betrachten, und manchmal wurden sie so schwach, daß sie erloschen zu sein schienen. Selbst wenn das Licht am hellsten war, war ees kalt und vermittelte nicht den geringsten Eindruck von Wärme. Toby beobachtete das Licht sehr lange. Schließlich verblich es. Das Hausmeistergebäude wurde wieder dunkel. Der Junge kehrte ins Bett zurück. Die Nacht verstrich.
SECHZEHNTES KAPITEL
Der Samstagmorgen begann mit Sonnenschein. Eine kalte Brise fegte aus dem Nordwesten heran, und gelegentlich schoß eine Schar dunkler Vögel von den bewaldeten Rockies zu dem flacheren Land im Osten durch den Himmel, als würden sie vor einem räuberischen Artgenossen fliehen. Der Wetterbericht eines Senders in Butte - den Heather und Jack eingeschaltet hatten, während sie duschten und sich anzogen - sagte Schnee voraus- Dies war, erklärte der Sprecher, einer der frühesten Stürme seit Jahren, und der Niederschlag würde sich bis zu fünfundzwanzig Zentimetern belaufen. Dem Tonfall des Sprechers zufolge galt ein Schneefall von fünfundzwanzig Zentimetern in diesem nördlichen Klima nicht als Blizzard. Es war nicht die Rede von Straßensperrungen oder Gegenden, die von der Außenwelt abgeschnitten werden würden. Im Kielwasser des ersten rollte ein zweiter, schwächerer Sturm auf
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