Wintermond
Gestalt, die den Kopf gegen die Tür drückte, das Ohr an den Spalt hielt und auf ein Geräusch von ihr lauschte. Unsinn. Das Scharren und Ächzen waren nur Geräusche des arbeitenden Holzes gewesen- Auch alte Häuser senkten sich noch unter dem unendlichen Druck der Schwerkraft. Dieser verdammte Traum hatte sie wirklich völlig durcheinandergebracht. Toby murmelte wortlos im Schlaf. Sie drehte sich um und betrachtete ihn. Er bewegte sich nicht, und nach ein paar Sekunden hörte sein Murmeln auf. Heather trat einen Schritt zurück und sah wieder zu der Tür. Sie wollte Toby nicht in Gefahr bringen, kam sich allmählich jedoch eher lächerlich vor, als daß sie wirklich Angst empfand. Nur eine Tür. Nur eine Treppe an der Hinterwand eines Hauses. Nur eine ganz normale Nacht, ein Traum, ein schlimmer Anfall von Nervosität. Sie legte die eine Hand auf die Klinke und die andere auf den Drehverschluß des Sicherheitsriegels. Das Messing fühlte sich unter ihren Fingern kühl an.
Sie erinnerte sich an das dringende Bedürfnis, das sie in ihrem Traum überkommen hatte: Laß es herein, laß es herein, laß es herein. Das war ein Traum gewesen. Dies war die Wirklichkeit. Menschen, die einen Traum nicht von der Wirklichkeit unterscheiden konnten, wurden in Zimmern mit gummiverkleideten Wänden untergebracht und von Krankenschwestern mit einstudiertem Lächeln und leiser, aber fester Stimme betreut. Laß es herein. Sie drehte den Riegel, drückte die Klinke hinab und zögerte. Laß es herein. Wütend auf sich selbst, riß sie die Tür auf. Sie hatte vergessen, daß das Treppenhauslicht nicht eingeschaltet sein würde. Der schmale Schacht war fensterlos; von draußen fiel kein Licht hinein. Das rote Leuchten im Kinderzimmer war zu schwach, um über die Schwelle zu dringen. Sie stand vor einer Wand der Dunkelheit und konnte nicht einmal sagen, ob sich etwas auf den oberen Stufen oder sogar der Brüstung direkt vor ihr befand. Aus der Finsternis wehte der widerliche Gestank, den sie vor zwei Tagen mit harter Arbeit und Ammoniakwasser vertrieben hatte, zwar nicht so stark wie vorher, aber trotzdem: der üble Geruch verfaulenden Fleisches. Vielleicht hatte sie nur geträumt, daß sie erwacht war, und befand sich noch immer im Griff des Alptraums. Ihr Herz hämmerte gegen das Brustbein, ihr Atem stockte in der Kehle, und sie griff nach dem Lichtschalter, der sich auf ihrer Seite der Tür befand. Hätte er auf der anderen Seite gelegen, hätte sie vielleicht nicht den Mut aufgebracht, in diese sich zusammengerollte Dunkelheit zu greifen und danach zu tasten. Sie verfehlte ihn beim ersten und zweiten Versuch, wagte es nicht, den Blick von der Finsternis vor ihr zu wenden, griff blindlings nach der Stelle, an der der Schalter eigentlich sein mußte; hätte beinah Toby angeschrieen, er solle aufwachen und davonlaufen, fand den Schalter endlich - Gott sei Dank - und drückte ihn. Licht. Die leere Brüstung. Da war nichts. Natürlich nicht. Was sonst? Leere Treppenstufen, die sich hinab und außer Sicht erstreckten. Unten knackte eine Treppenstufe. O Gott. Sie trat auf die Brüstung. Sie trug keine Hausschuhe. Das Holz unter ihren nackten Füßen war kalt und rauh. Noch ein Knacken, diesmal leiser als zuvor. Arbeitendes Holz. Vielleicht. Sie trat von der Brüstung und ließ die linke Hand an der konkaven Biegung der Außenwand entlanggleiten, um Halt zu finden. Bei jedem Schritt, den sie tat, kam vor ihr eine neue Stufe in Sicht. Sobald sie jemanden sah, würde sie sich umdrehen und die Treppe hinauflaufen, in Tobys Zimmer, die Tür zuwerfen und den Riegel vorlegen. Er konnte von der Treppe aus nicht geöffnet werden, nur von dem Zimmer aus, also konnte ihr nichts passieren. Von unten kam ein verstohlenes Klicken, ein schwacher, dumpfer Schlag - als würde eine Tür so leise wie möglich zugezogen werden. Plötzlich bereitete ihr die Aussicht auf eine Konfrontation weniger Sorgen als die Möglichkeit, daß die Episode ergebnislos enden würde. Heather mußte es wissen, so oder so, und schüttelte ihre Furchtsamkeit ab. Sie lief die Stufen hinunter, machte mehr als genug Lärm, um ihre Anwesenheit zu enthüllen, die konvexe Biegung der Innenwand entlang, herum, herum, hinab zum Vorraum am Fuß der Treppe. Er war leer. Sie legte die Hand auf die Klinke der Küchentür. Sie war verschlossen, und man benötigte einen Schlüssel, wollte man sie von dieser Seite öffnen. Sie hatte keinen Schlüssel. Vermutlich würde ein Eindringling auch
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