Wintermond
keinen haben. Die andere Tür führte auf die hintere Veranda. Auf dieser Seite wurde sie von einem Riegel mit Schnappverschluß gesichert. Er lag vor. Sie öffnete ihn, zog die Tür auf und trat auf die Veranda. Verlassen. Soweit sie sehen konnte, lief auch niemand über den Hinterhof. Außerdem hätte ein Eindringling zwar keinen Schlüssel gebraucht, um durch diese Tür hinauszugelangen, aber einen, um hinter sich abzuschließen, denn von außen ließ sie sich nur mit einem Schlüssel auf- und zusperren.
Irgendwo stieß eine Eule einen traurigen, fragenden Schrei aus. Die Luft war windlos, kalt und feucht; es schien sich nicht um die der Nacht draußen zu handeln, sondern um die feuchte, kalte und irnmer leicht muffig riechende eines Kellers. Sie war allein. Aber irgendwo fühlte sie sich nicht allein. Sie fühlte sich beobachtet.
»Um Gottes willen, Heth«, sagte sie, »was ist nur los mit dir?«
Sie trat in den Vorraum zurück und schloß die Tür ab. Sie betrachtete den glänzenden Messingriegel und fragte sich, ob ihre Phantasie nur ein paar ganz normale Geräusche vereinnahmt und aus ihnen eine Bedrohung heraufbeschworen hatte, die noch weniger Substanz als ein Geist hatte. Der Fäulnisgeruch blieb. Na ja, vielleicht war das Ammoniakwasser nicht geeignet, den Geruch länger als einen oder zwei Tage zu vertreiben. Vielleicht lag in irgendeiner Mauer eine Ratte oder ein anderes kleines Tier und faulte vor sich hin. Als sie sich zur Treppe umdrehte, trat sie in etwas. Sie hob den linken Fuß und betrachtete den Boden. Ein Klumpen trockener Erde, etwa so groß wie eine Pflaume, war unter ihrer nackten Ferse teilweise zerbröckelt. Als sie zum Obergeschoß hinaufging, bemerkte sie auf einigen Stufen weitere trockene Erdklumpen, die sie bei ihrem schnellen Abstieg übersehen hatte. Der Schmutz hatte nicht dort gelegen, als sie am Mittwoch mit dem Putzen der Treppe fertig gewesen war. Sie wollte glauben, daß es sich bei dem Dreck um einen Beweis für die Existenz des Eindringlings handelte. Wahrscheinlicher war jedoch, daß Toby etwas Schmutz vom Hinterhof hineingetragen hatte. Er war normalerweise ein rücksichtsvoller Junge und von Natur aus freundlich, aber er war schließlich erst acht Jahre alt. Heather kehrte in Tobys Zimmer zurück, verschloß die Tür und schaltete das Licht im Treppenhaus aus. Ihr Sohn schlief fest. Sie kam sich genauso töricht wie verwirrt vor, als sie die vordere Treppe hinab und direkt in die Küche ging. Falls der widerwärtige Geruch tatsächlich ein Beweis für die Anwesenheit des Eindringlings war und auch nur die geringste Spur davon in der Küche hing, bedeutete dies, daß er einen Schlüssel hatte, mit dessen Hilfe er über die Hintertreppe hinaufgegangen war. In diesem Fall würde sie sofort Jack wecken und darauf bestehen, das Haus von oben bis unten zu durchsuchen - mit geladenen Waffen. Die Küche roch frisch und sauber. Und es lagen auch keine Erdbrocken auf dem Boden. Sie war fast etwas enttäuscht. Sie konnte die Vorstellung nicht ausstehen, daß sie sich alles nur eingebildet hatte, doch die Fakten ließen keine andere Schlußfolgerung zu. Ob ihr nun die Phantasie einen Streich gespielt hatte oder nicht, sie wurde das Gefühl nicht los, unter Beobachtung zu stehen. Sie ließ die Jalousien der Küchenfenster hinab. Reiß dich zusammen, dachte Heather. Du bist noch fünfzehn Jahre von den Wechseljahren entfernt, Lady; es gibt keine Entschuldigung für diese seltsamen Stimmungsschwankungen. Sie hatte vorgehabt, die Nacht über zu lesen, war aber zu aufgeregt, um sich auf ein Such konzentrieren zu können. Sie mußte sich irgendwie beschäftigen. Nachdem sie eine Kanne Kaffee aufgesetzt hatte, nahm sie sich den Inhalt des Gefrierfachs der Kühlkombination vor. Sie fand ein Dutzend Fertiggerichte, ein Päckchen Wiener Würstchen, zwei Tüten Mais der Firma Green Giant, eine Tüte grüne Bohnen, zwei Tüten Möhren und eine Schachtel Blaubeeren aus Oregon. Eduardo Fernandez hatte keine einzige dieser Verpackungen geöffnet, und sie konnten alle Vorräte noch verbrauchen. In einem unteren Fach fand sie unter einer Schachtel Eggo-Waffeln und einem Pfund Speck eine durchsichtige Plastiktüte, die einen Notizblock zu enthalten schien. Das Plastik war aufgrund des Frosts fast undurchsichtig geworden, doch sie konnte undeutlich ausmachen, daß handschriftliche Eintragungen die Linien der ersten Seite füllten. Sie öffnete die Plastiktüte und zögerte dann. Wenn Fernandez den
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