Wintermond
Kenntnis. »Keine Ahnung, was es ist.« Seine Augen wirkten leer, als würde er sie gar nicht sehen, und er schaute wieder zum Fernsehgerät. Der Bildschirm war mit einem sich ständig verändernden Fluß amöbischer Formen gefüllt, die sie an eine dieser Lava-Lampen erinnerten, die irgendwann mal so beliebt gewesen waren. Die Lampen hatten jedoch nur zwei Farben aufweisen können, während diese Darstellung alle erdenklichen Variationen der Grundfarben umfaßte und im einen Augenblick hell und im nächsten dunkel war. Sich ständig veränderte Formen verschmolzen, kräuselten und bogen sich, flossen und sprudelten, tropften und perlten und pochten in einer unaufhörlichen Zurschaustellung eines amorphen Chaos, schossen ein paar Sekunden lang mit einem wahnwitzigen Tempo dahin, sickerten dann träge, nur um kurz darauf wieder schneller zu werden.
»Was ist das?« fragte Heather.
Toby zuckte die Achseln. Die bunten, abstrakten Kurven und Linien setzten sich endlos immer neu wieder zusammen. Das Schauspiel war interessant und gelegentlich wunderschön. Doch je länger Heather es betrachtete, desto beunruhigender wurde es, wenngleich ihr dafür kein Grund in den Sinn kam. Nichts an den Mustern war irgendwie unheilvoll oder bedrohlich. Eigentlich hätte die fließende und verträumte Vermischung der Formen beruhigend wirken müssen.
»Warum hast du den Ton ausgeschaltet?«
»Hab ich nicht.«
Sie kauerte sich neben ihm nieder, nahm die Fernbedienung vom Teppich auf und druckte auf den Lautstärke-Knopf. Das einzige Geräusch war das schwache, statische Rauschen der Lautsprecher. Sie schaltete auf den nächsten Kanal weiter, und die dröhnende Stimme eines aufgeregten Sportkommentators und der Jubel der Zuschauer eines Football-Spiels explodierten im Wohnzimmer- Sie schaltete die Lautstärke sofort wieder niedriger. Als sie auf den vorherigen Kanal zurückschaltete, war die Lava-Lampe in Technicolor verschwunden. Statt dessen füllte ein Daffy-Duck Zeichentrickfilm den Bildschirm, und der frenetischen Schnelligkeit der Handlung nach zu urteilen, näherte er sich einem pyrotechnischen Höhepunkt.
»Das War aber komisch«, sagte sie.
»Mir hat's gefallen«, sagte Toby.
Sie schaltete die Kanäle zuerst nach oben und dann nach unten durch, fand die seltsame Darstellung jedoch nicht mehr. Sie drückte auf den Ausschaltknopf, und der Bildschirm wurde dunkel.
»Ist sowieso egal«, sagte sie. »Wir müssen frühstücken, damit wir endlich aufbrechen können. Haben in der Stadt jede Menge zu erledigen. Ich will nicht unter Zeitdruck stehen, wenn wir diese Schlitten kaufen.«
»Diese was?« fragte der junge, als er aufstand.
»Hast du mich gerade nicht gehört?«
Er zuckte die Achseln.
»Was ich über den Schnee gesagt habe?«
Sein kleines Gesicht heiterte sich auf. »Es wird schneien?«
»Du mußt genug Wachs in den Ohren haben, um die größte Kerze der Welt zu machen«, sagte sie und ging zur Küche.
Toby folgte ihr. »Wann?« fragte er. »Wann wird es schneien, Mom? Heute noch?«
»Wir könnten Dochte in deine Ohren stecken, ein Streichholz dranhalten und den Rest des Jahrzehnts über jeden Abend bei Kerzenschein essen.«
»Wieviel Schnee?«
»Wahrscheinlich sind auch tote Schnecken in den Ohren.«
»Nur ein paar Flocken oder ein schwerer Sturm?«
»Und vielleicht zwei oder drei tote Mäuse.«
»Mom?« sagte er wütend, als er hinter ihr die Küche betrat.
Sie drehte sich um, kauerte vor ihm nieder und hielt die Hand über sein Knie. »Bis hierher, vielleicht noch mehr.«
»Wirklich?«
»Wir werden Schlitten fahren.«
»Mann.«
»Einen Schneemann bauen.«
»Eine Schneeballschlachtl« forderte er sie heraus.
»Na schön, Dad und ich gegen dich.«
»Das ist nicht fair!« Er lief zum Fenster und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. »Der Himmel ist ganz blau.«
»Wird er nicht mehr lange bleiben. Versprochen«, sagte sie und ging zur Speisekammer. »Willst du Weizenkleie oder Cornflakes zum Frühstück?«
»Doughnuts und Schokomilch.«
»Ich glaub', dir geht's nicht gut.«
»War doch einen Versuch wert. Weizenkleie.«
»Braver Junge.«
»Hel« sagte er überrascht und trat einen Schritt vom Fenster zurück. »Mom, sieh dir das an.«
»Was ist denn?«
»Sieh doch, schnell, sieh dir diesen Vogel an. Er ist direkt vor mir gelandet.«
Heather trat ebenfalls zurn Fenster und sah auf der anderen Seite der Scheibe eine Krähe hocken. Sie hielt den Kopf aufgerichtet und musterte sie neugierig mit
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