Wintermond
Minute lang neben dem Jungen stehen und kniete dann nieder. Aus der Feme schien alles in Ordnung zu sein; nichts deutete auf Probleme hin. Offensichtlich hatte sie sich grundlos Sorgen gemacht. Wie sie es in letzter Zeit so häufig tat. Sie nahm auf ihrem Bürostuhl Platz, seufzte über ihre übermäßige mütterliche Besorgnis und konzentrierte sich auf ihre Computer. Sie überprüfte die Festplatten der Geräte, nahm ein paar Tests vor und vergewisserte sich, daß alle Programme an Ort und Stelle waren und während des Transports nichts beschädigt worden war. Später wurde sie durstig, und bevor sie in die Küche ging, um sich eine Pepsi zu holen, trat sie ans Fenster, um nach Jack und Toby zu sehen. Sie befanden sich jetzt fast außerhalb ihres Blickfelds, bei den Ställen, und warfen sich gegenseitig den Frisbee zu. Dem bewölkten Himmel und der Kälte zufolge, die das Fenster ausstrahlte, als Heather es berührte, würde es bald zu schneien anfangen. Sie konnte es kaum abwarten.
Vielleicht würde der Wetterwechsel auch eine Veränderung ihrer Stimmung herbeiführen und ihr helfen, die Stadtnervosität abzuschütteln, die ihr noch immer zu schaffen machte. Es dürfte gar nicht so einfach werden, sich an diese alten, paranoiagetränkten Ansichten über das Stadtleben in Los Angeles zu klammern, wenn sie sich in einer weißen Wunderwelt befand, die funkelte und jungfräulich war wie eine Szene auf einer Weihnachtskarte. Als sie in der Küche eine Dose Pepsi öffnete und den Inhalt in ein Glas goß, hörte sie ein lautes Motorengeräusch. Da sie dachte, Paul Youngblood würde ihnen einen unerwarteten Besuch abstatten, nahm sie die Plastiktüte vom Kühlschrank und legte sie auf den Küchentisch, damit sie nicht vergaß, sie ihm zu geben, wenn er wieder nach Hause fuhr. Als sie in die Diele gegangen war, die Tür geöffnet hatte und auf die Veranda getreten war, hielt das Fahrzeug vor den Garagentüren an. Es war nicht Pauls weißer Bronco, sondern ein ähnlicher, metallicblauer Wagen, so groß wie der Bronco, größer als ihr Explorer, aber doch ein anderes Modell, das sie nicht kannte. Sie fragte sich, ob in dieser Gegend überhaupt jemand ein normales Auto fuhr. Aber sie hatte in der Stadt und vor dem Supermarkt natürlich jede Menge >normale< Wagen gesehen. Doch selbst dort waren Lieferwagen und Jeeps mit Allradantrieb gegenüber gewöhnlichen Personenwagen weit in der Überzahl gewesen. Sie ging die Treppe hinab und über den Hof, um den Besucher zu begrüßen, und wünschte sich, sie hätte eine Jacke angezogen. Die bitterkalte Luft drang sogar durch ihr dickes Flanellhemd. Der Mann, der aus dem Wagen stieg, war etwa dreißig Jahre alt, hatte einen widerspenstigen braunen Haarschopf, schroffe Gesichtszüge und hellbraune Augen, die freundlicher waren als sein zerklüftetes Äußeres. Er schlug die Wagentür hinter sich zu und lächelte. »Guten Tag«, sagte er. »Sie müssen Mrs. McGarvey sein.«
»Das stimmt«, sagte sie und schüttelte die Hand, die er ihr hinhielt. »Travis Potter. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin der Tierarzt von Eagle's Roost. Einer der Tierärzte. Man könnte ans Ende der Welt fahren, und die Konkurrenz wäre schon da.«
Auf der Ladefläche des Kombis stand ein großer Golden Retriever. Er wedelte ununterbrochen mit dem buschigen Schwanz und grinste sie durch das Seitenfenster an. Als Potter sah, daß Heather zu dem Tier hinüberschaute, sagte er: »Ein Prachtkerl, was?«
»Das sind wunderbare Hunde. Ist er reinrassig?«
»So reinrassig, wie er nur sein kann.«
Jack und Toby kamen um die Ecke des Hauses. Weiße Atemwolken standen vor ihren Mündern; sie waren anscheinend vom Hügel neben den Ställen, wo sie gespielt hatten, hierhergelaufen. Heather stellte die beiden dem Tierarzt vor. Jack ließ den Frisbee fallen und gab ihm die Hand. Doch Toby war so begeistert vom Anblick des Hundes, daß er seine Manieren vergaß, direkt zu dem Kombi lief und den einzigen Insassen verzückt durch die Scheibe betrachtete.
»Dr. Potter....«, sagte Heather zitternd.
»Sagen Sie bitte Travis.«
»Travis, trinken Sie eine Tasse Kaffee mit uns?«
»Ja, kommen Sie rein und bleiben Sie ein Weilchen«, sagte Jack, als habe er schon immer auf dem Land gelebt und kenne die Gepflogenheiten in Montana genau. »Bleiben Sie doch zum Abendessen.«
»Tut mir leid, das geht nicht«, sagte Travis. »Aber vielen Dank für die Einladung. Ich komme später gern darauf zurück, wenn Sie nichts dagegen
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