Wintermond
über Montana war hoch und blau, und Berge ragten in ihn hinein, deren Gipfel so weiß wie Engelskleider waren. Ihre Hänge wurden von grünen Wäldern und den glatten Konturen tiefer liegender Wiesen geziert, die noch unter dem Mantel des Winters schliefen. Die Luft war rein und so klar, daß man den Eindruck haben konnte, bis nach China zu sehen, wären die Berge nicht dazwischen. Eduardo Fernandez stand auf der Veranda der Ranch und sah über die abfallenden, schneebedeckten Felder zu dem Wald hundert Meter im Osten hinüber. Riesen- und Gelbkiefern drängten sich eng aneinander und warfen pechschwarze Schatten auf den Boden, als wäre die Nacht nie ganz ihrem nadligen Zugriff entkommen, obwohl eine strahlende Sonne hoch in einem wolkenlosen Himmel stand. Die Stille war tief. Eduardo lebte allein, und sein nächster Nachbar war drei Kilometer entfernt. Der Wind war noch schwach, und abgesehen von zwei Raubvögeln - Falken vielleicht -, die geräuschlos hoch im Himmel kreisten, bewegte sich nichts auf diesem gewaltigen Panorama. Kurz nach ein Uhr morgens, einer Zeit, da die Nacht sich normalerweise in tiefste Stille hüllte, war Eduardo von einem seltsamen Geräusch geweckt worden. Je länger er gelauscht hatte, desto seltsamer war es ihm vorgekommen. Als er aufgestanden war, um die Quelle des Geräuschs zu suchen, hatte er überrascht festgestellt, daß er Angst hatte. Dabei hatte er geglaubt, nach sieben Jahrzehnten voller unliebsamer Überraschungen einen geistigen Frieden gefunden und die Unausweichlichkeit des Todes akzeptiert zu haben. Er hatte schon seit langem vor nichts mehr Angst empfunden. Um so mehr hatte es ihn genervt, in der vergangenen Nacht feststellen zu müssen, daß ein seltsames Geräusch sein Herz wild hämmern ließ. Seine Gedärme hatten sich vor Furcht zusammengezogen. Im Gegensatz zu vielen anderen Siebzigjährigen hatte Eduardo nur selten Schwierigkeiten, volle acht Stunden lang tief und fest zu schlafen. Seine Tage waren mit körperlicher Aktivität ausgefüllt, seine Abende mit dem Trost guter Bücher; ein Leben mäßiger Gewohnheiten hatte dafür gesorgt, daß er auch noch im Alter kräftig war, und er war zufrieden, empfand kein bitteres Bedauern. Die Einsamkeit war der einzige Fluch seines Lebens, seit Margarite vor drei Jahren gestorben war, und bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er mitten in der Nacht aufwachte, hatte ihn ein Traum von seiner verstorbenen Frau aus dem Schlaf gerissen. Das Geräusch war weniger laut als allgegenwärtig gewesen. Ein leises Pochen, das anschwoll wie Wellen, die auf ein Ufer brandeten. Unter diesem Pochen ein fast unterbewußter, zitternder Unterton, ein unheimliches elektronisches Oszillieren. Er hatte es nicht nur gehört, sondern auch gespürt, es hatte in seinen Zähnen, seinen Knochen vibriert. Sogar das Fensterglas summte mit diesen Schwingungen. Als er eine Hand flach auf die Wand legte, hätte er schwören können, die Tonwellen wahrzunehmen, die sich durch das Haus selbst hoben, wie der schwache Schlag eines Herzens unter dem Putz. Dieser Herzschlag wurde von dem Gefühl eines Drucks begleitet, dem Gefühl, er lausche jemandem oder etwas, das sich rhythmisch gegen eine Fessel warf, versuchte, aus einem Gefängnis oder durch eine Barriere zu brechen. Aber wer? Oder was? Nachdem er schließlich aus dem Bett gestiegen war und Hosen und Schuhe übergestreift hatte, war er auf die Veranda gegangen, von der aus er das Licht im Wald gesehen hatte. Nein, er mußte ehrlicher zu sich selbst sein. Es war nicht nur ein Licht im Wald gewesen, so einfach war das nicht. Eduardo Fernandez war nicht abergläubisch. Schon als junger Mann hatte er sich seiner nüchternen Vernunft gerühmt, seines gesunden Menschenverstands und der unsentimentalen Sicht der Realität. Die Autoren, deren Bücher die Regale in seinem Arbeitszimmer füllten, waren die mit klarem, einfachem Stil und ohne Geduld für Phantasie, Männer mit einem kalten, klaren Blick, die die Welt so sahen, wie sie war, und nicht, wie sie vielleicht sein konnte: Männer wie Hemingway, Raymond Carver, Ford Madox Ford. Das Phänomen in den tieferen Bereichen des Waldes hätten seine Lieblingsautoren - jeder einzelne von ihnen ein Realist - niemals in ihre Geschichten aufnehmen können. Das Licht war nicht von einem Gegenstand im Wald gekommen, vor dem die Kiefern sich abgehoben hatten; nein, es stammte von den Bäumen selbst, ein geflecktes, bernsteinfarbiges Strahlen, das seinen Ursprung unter
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