Wintermond
Hintergrund spielen ließ, während man miteinander schlief. Zumindest für ihn klang es wie Musik, die man bei einem brutalen Mord im Hintergrund spielen ließ, vielleicht, um die Schreie des Opfers zu übertönen. Er fühlte sich uralt. Abgesehen davon, daß er in der Musik keine Musik hörte, begriff er nicht, wie eine Gruppe sich Wormheart nennen konnte. Gruppen sollten Namen wie The Four Freshmen, The Andrews Sisters, The Mills Brothers haben. Er kam sogar noch mit The Four Tops oder James Brown and the Famous Flames klar. Er mochte James Brown. Aber Wormheart? Das beschwor ekelhafte Vorstellungen herauf. Na ja, er war nicht hip und wollte es auch nicht sein. Wahrscheinlich gebrauchte man das Wort hip heutzutage gar nicht mehr. Eigentlich war er sich dessen sogar sicher. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was dieses Wort heutzutage bedeutete. Älter als der Sand Ägyptens. Er hörte sich die Musik noch eine Minute lang an, schaltete sie dann aus und nahm den Kopfhörer ab. Wormheart war genau das, was er brauchte. Am letzten Apriltag war das Winterkleid bis auf die tieferen Verwehungen geschmolzen, die den Großteil des Tages über im Schutz von Schatten lagen, doch auch sie nahmen schnell ab. Der Boden war feucht, aber nicht mehr schlammig. Totes braunes Gras bedeckte die Hügel und Wiesen, zerquetscht und niedergedrückt vom Gewicht des geschmolzenen Schnees; doch innerhalb von einer Woche würde ein Teppich aus zarten, grünen Sprößlingen jeden Winkel des jetzt öden Lands bedecken. Eduardos täglicher Spaziergang führte ihn am östlichen Ende der Ställe vorbei zu den freien Flächen südlich vom Haus. Um elf Uhr morgens war der Tag sonnig, und die Temperatur betrug an die zehn Grad. Im Nordhimmel zog sich eine Armada hoher, weißer Wolken zurück. Eduardo trug Khakihosen und ein Flanellhemd, und aufgrund der körperlichen Anstrengung war ihm so warm, daß er die Hemdsärmel aufrollte. Auf dem Rückweg besuchte er die drei Gräber, die im Westen der Ställe lagen. Bis vor kurzem war der Staat Montana recht großzügig gewesen, was die Errichtung von Familienfriedhöfen auf Privatbesitz betraf. Kurz nachdem Stanley Quartermass die Ranch erworben hatte, war er zum Schluß gekommen, daß er dort die Ewigkeit verbringen wollte, und hatte die Genehmigung beantragt und erhalten, dort bis zu zwölf Grabstätten anzulegen. Der Friedhof lag auf einem kleinen Grashügel in der Nähe des oberen Teils des Waldes. Die heilige Ruhestätte wurde lediglich von einer dreißig Zentimeter hohen Mauer aus Wackersteinen und zwei je einen Meter hohen Säulen am Eingang kenntlich gemacht. Quartermass hatte sich den herrlichen Ausblick auf das Tal und die Berge nicht verderben wollen - als hätte er gedacht, sein Geist würde auf dem Grab sitzen und den Ausblick genießen, wie der in einem dieser alten, unbeschwerten Filme um Mr. Topper. Lediglich drei steinerne Grabsteine befanden sich auf der Fläche, die für zwölf gedacht war. Quartermass. Tommy. Margarite. Wie der Produzent es in seinem Testament bestimmt hatte, lautete die Inschrift des ersten Gedenksteins: >Hier liegt Stanley Quartermass / vor seiner Zeit gestorben / weil er mit / so verdammt vielen /Schauspielern und Drehbuchautoren / arbeiten mußte<, gefolgt von seinem Geburts- und Todestag. Er war vierundsechzig Jahre alt gewesen, als das Flugzeug abstürzte. Doch selbst, wenn er fünfhundert Jahre alt gewesen wäre, wäre er trotzdem der Ansicht gewesen, daß seine Zeit auf Erden zu kurz bemessen war, denn er hatte das Leben mit großer Energie und Leidenschaft umarmt. Tommys und Margarites Grabsteine trugen keine humorvollen Inschriften - nur >geliebter Sohn und >geliebte Frau. Eduardo vermißte sie. Der schwerste Schlag war der Tod seines Sohnes gewesen, der vor nur gut einem Jahr in Ausübung seiner Pflicht im Alter von zweiunddreißig Jahren getötet worden war. Eduardo und Margarite hatten zumindest ein langes gemeinsames Leben genossen. Es war schrecklich, wenn jemand sein eigenes Kind überlebte. Er wünschte sich, sie wären wieder bei ihm. Diesen Wunsch hatte er häufig, und die Tatsache, daß er niemals in Erfüllung gehen konnte, stürzte ihn normalerweise in eine melancholische Stimmung, aus der er sich nur schwer wieder befreien konnte. Bestenfalls trieb er, wenn er Sehnsucht nach seiner Frau und seinem Sohn empfand, in nostalgische Nebel und durchlebte erneut schöne Tage aus vergangenen Jahren. Diesmal jedoch war ihm der vertraute Wunsch kaum durch
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