Wintermond
den Kopf gegangen, als ihn auch schon ein unerklärliches Entsetzen überkam. Ein eiskalter Wind schien durch sein Rückgrat zu pfeifen, als wäre es von einem Ende bis zum anderen hohl. Als er sich umdrehte, hätte es ihn nicht überrascht, jemanden hinter sich zu sehen. Doch er war allein. Der Himmel war durch und durch blau, die letzten Wolken waren über den nördlichen Horizont geglitten, und die Luft war so warm wie seit dem letzten Herbst nicht mehr. Trotzdem hielt der Kälteschauer an. Er rollte die Hemdsärmel herunter und knöpfte die Manschetten zu. Als Eduardo erneut die Grabsteine betrachtete, wurde seine Phantasie plötzlich von ungebetenen Bildern von Tommy und Margarite ausgefüllt, Bilder, die sie nicht zeigten, wie sie im Leben gewesen waren, sondern wie sie vielleicht in ihren Särgen lagen: verfallend, von Würmern durchlöchert, mit leeren Augenhöhlen und zusammengeschrumpften Lippen, die das Grinsen gelber Zähne enthüllten. Er zitterte unkontrolliert und wurde von der absoluten Überzeugung gepackt, daß die Erde vor den Grabsteinen sich heben und dann in sich zusammenbrechen würde, daß die verderbten Hände ihrer Leichen in der zerbröckelnden Erde erscheinen und heftig graben würden, und dann ihre Gesichter, ihre augenlosen Gesichter, wenn sie sich aus dem Erdreich erhoben. Er trat ein paar Schritte von den Gräbern zurück, floh aber nicht. Er war zu alt, um an lebende Tote oder Geister zu glauben. Das abgestorbene Gras und die vom Frühling aufgetaute Erde bewegten sich nicht. Nach einer Weile erwartete er auch nicht mehr, daß sich etwas bewegte. Als er sich wieder voll in der Gewalt hatte, ging er zwischen den Grabsteinen hindurch und verließ den Friedhof. Den gesamten Weg bis zum Haus wollte er sich umdrehen und zurückblicken. Er tat es nicht. Er betrat das Haus durch die Hintertür und schloß sie ab. Normalerweise sperrte er die Türen nie zu. Obwohl es Zeit für das Mittagessen war, hatte er keinen Hunger. Statt dessen öffnete er eine Flasche Corona. Normalerweise trank er höchstens drei Bier pro Tag. Das war sein absolutes Limit und keineswegs das Minimum. Es gab Tage, an denen er überhaupt keinen Alkohol trank. Aber in letzter Zeit nicht mehr. In letzter Zeit hatte er die selbstgesteckte Grenze überschritten und oft mehr als drei Flaschen täglich geköpft. An einigen Tagen sogar wesentlich mehr. Als er später an diesem Nachmittag in einem Sessel im Wohnzimmer saß, Thomas Wolfe zu lesen versuchte und an der dritten Flasche Corona trank, gelangte er gegen seinen Willen zur Überzeugung, daß die Erfahrung auf dem Friedhof eine lebhafte Warnung gewesen war. Aber eine Warnung wovor? Als der April verstrich, ohne daß sich das Phänomen im Wald vor dem Haus wiederholte, wurde Eduardo nervöser statt ruhiger. Bislang hatten die Vorfälle sich immer in der gleichen Mondphase ereignet - bei Neumond, wenn der Trabant im ersten Viertel stand. Dieser Vorgang am Himmel kam ihm immer wichtiger vor, während der Aprilmond verblich und ohne weiteren Zwischenfall abnahm. Der Mondzyklus mochte nicht das geringste mit diesen besonderen Ereignissen zu tun haben aber er bot ihm einen Anhaltspunkt, wann er sie zu erwarten hatte. Beginnend mit der Nacht zum ersten Mai, in der am Himmel ein Splitter des Neumonds zu sehen war, schlief er zum erstenmal voll bekleidet. Die .22er lag in einem Lederhalfter auf dem Nachttisch. Daneben der Discman mit dem Kopfhörer; die Wormheart-CD hatte er bereits eingelegt. Eine geladene Remington-Schrotflinte lag in Reichweite unter dem Bett. Die Videokamera war mit frischen Batterien und einer neuen Kassette ausgestattet. Er war darauf vorbereitet, schnell zu reagieren. Er schlief unruhig, doch die Nacht ging ohne Zwischenfall vorüber. Er erwartete erst in den frühen Morgenstunden des vierten Mai Probleme. Natürlich war nicht gesagt, daß das seltsame Schauspiel sich je wiederholen würde. Er hoffte sogar, es nie wieder beobachten zu müssen. Doch in seinem Herzen wußte er, was sein Verstand nicht ganz eingestehen konnte: daß bedeutende Ereignisse in Gang gesetzt worden waren, an Schwung gewonnen hatten und er genauso wenig vermeiden konnte, eine Rolle dabei zu spielen, wie ein zum Tode Verurteilter in Ketten den Strang oder die Guillotine vermeiden konnte. Wie sich herausstellte, mußte er nicht ganz so lange wie vermutet warten. Da er in der Nacht zuvor nur wenig Schlaf bekommen hatte, ging er am zweiten Mai früh zu Bett - und wurde kurz nach
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