Wintermond
der für seinen Geschmack viel zu manieriert war, zu viel Atmosphäre und zu wenig Inhalt. Sie waren typische Vertreter von Geistergeschichten, und es bereitete ihm Probleme, seine Zweifel lange genug zu unterdrücken, um sich von ihnen fesseln zu lassen. Falls es wirklich eine Hölle gab, hätte die unbekannte Wesenheit, die versuchte, in der Struktur der Nacht eine Tür zu öffnen, tatsächlich eine verdammte Seele oder ein Dämon sein können, der sich den Weg aus seinem feurigen Reich erzwingen wollte. Doch das war der springende Punkt: Der alte Mann glaubte nicht, daß es eine Hölle gab, zumindest nicht als das kirmesbunte Königreich des Bösen, als das sie in billigen Filmen und Büchern so oft dargestellt wurde. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß Heinlein und Clarke sehr unterhaltsam und gedankenanregend waren. Er zog die Bärbeißigkeit des ersteren dem manchmal naiven Humanismus des letzteren vor, doch beide hatten ihre Vorzüge. Er wußte nicht genau, was er in ihren Büchern zu entdecken hoffte oder wie sie ihm helfen konnten, sich mit dem Phänomen im Wald zu befassen. Hatte er irgendwo in seinem Hinterstübchen die absurde Vorstellung gehegt, einer dieser Autoren hätte eine Geschichte über einen alten Mann geschrieben, der an einem abgelegenen Ort wohnte und mit etwas Kontakt aufnahm, das nicht von dieser Welt kam? Wenn ja, war er so verrückt, daß ihm sowieso nicht mehr zu helfen wäre. Nichtsdestoweniger war es wahrscheinlicher, daß die Präsenz, die er hinter dem Phantomfeuer und dem pulsierenden Geräusch wahrgenommen hatte, eher außerirdischen Ursprungs war, als daß sie aus der Hölle kam. Das Universum enthielt unendlich viel Sterne. Eine unendliche Anzahl von Planeten, die diese Sterne umkreisten, mochte die richtigen Voraussetzungen für die Entstehung von Leben bieten. Das war eine wissenschaftliche Tatsache und keine phantastische Wunschvorstellung. Vielleicht hatte er sich die ganze Sache auch nur eingebildet. Eine Verhärtung der Arterien, durch die das Blut zum Gehirn floß. Eine von der Alzheimerschen Krankheit hervorgerufene Illusion. An diese Erklärung konnte er eher glauben als an Dämonen oder Außerirdische. Er hatte die Videokamera eher gekauft, um seine Selbstzweifel beizulegen, als daß er damit Beweise für die Behörden sammeln wollte. Wenn er das Phänomen auf Band festhalten konnte, war er nicht verrückt und konnte auch weiterhin allein leben. Wenn er nicht von dem umgebracht wurde, was auch immer schließlich dieses Portal in der Nacht öffnen würde. Am fünfzehnten April fuhr er nach Eagle's Roost, um frische Milch und andere Vorräte zu kaufen - und einen Discman von Sony mit den besten Kopfhörern, die es auf dem Markt gab. Custer's bot auch eine Auswahl an MCs und CDs. Eduardo erkundigte sich bei dem Typ, der wie Mozart aussah, nach der lautesten Musik, die Teenager sich heutzutage anhörten.
»Ein Geschenk für Ihr Enkelkind?« fragte der Angestellte. Es war einfacher, ihm zuzustimmen, als es ihm zu erklären.
»Ganz genau.«
»Heavy Metal.«
Eduardo hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach.
»Hier ist eine neue Gruppe, die echt schrill ist«, sagte der Verkäufer und fischte eine CD aus den Verkaufsbehältern heraus.
»Sie nennen sich Wormheart.«
Nachdem Eduardo auf der Ranch die Lebensmittel eingeräumt hatte, setzte er sich an den Küchentisch, um sich die CD anzuhören. Er legte Batterien ein, schob die CD in den Discman, setzte den Kopfhörer auf und drückte auf den Abspielknopf. Die Geräuschexplosion hätte fast sein Trommelfell zerrissen, und er drehte die Lautstärke schnell runter. Er hörte vielleicht eine Minute lang zu und gelangte halbwegs zu der Überzeugung, daß man ihm eine fehlerhafte CD verkauft hatte. Doch die Klarheit des Tons überzeugte ihn schließlich, daß er sich genau das anhörte, was Wormheart hatte aufnehmen wollen. Er lauschte weitere zwei oder drei Minuten und wartete darauf, daß aus der Kakophonie Musik wurde, bis ihm klar wurde, daß es sich der modernen Definition zufolge tatsächlich um Musik handelte. Er fühlte sich alt. Er erinnerte sich, daß er als junger Mann mit Margarite zur Musik von Benny Goodman, Frank Sinatra, Mel Torme oder Tommy Dorsey geknutscht hatte. Knutschten die jungen Leute heutzutage überhaupt noch? Wußten sie, was das Wort bedeutete? Schmusten sie? Machten sie Petting? Oder zogen sie sich einfach aus und fielen übereinander her? Es klang in der Tat nicht wie Musik, die man im
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