Wintermond
Heavy-Metal-Musik höher. Die Zucker- und Goldkiefern, die vorher so unbewegt wie Bäume auf einer gemalten Bühnenkulisse gewesen waren, schwankten plötzlich, obwohl kein Wind aufgekommen war. Die Luft war voller wirbelnder Nadeln. Die Druckwellen wurden so stark, daß er zurückgeworfen wurde, stolperte und auf den Hintern fiel. Er unterbrach die Aufnahme und legte die Videokamera neben sich auf den Boden. Der an seinem Gürtel befestigte Discman vibrierte an seiner linken Hüfte. Das Wehklagen der Gitarren von Wormheart steigerte sich zu einem schrillen elektronischen Kreischen, das genauso schmerzhaft war, als hätte man ihm Nägel in die Ohren getrieben. Vor Schmerzen aufschreiend, riß er die Kopfhörer herunter. An seiner Hüfte drang Rauch aus dem vibrierenden Discman. Er riß ihn los und warf ihn zu Boden, wobei er sich an dem heißen Metallgehäuse die Finger verbrannte. Das Pochen, regelmäßig wie von einem Metronom, umgab ihn, als triebe er in dem schlagenden Herzen eines Riesen. Eduardo widerstand dem Drang, ins Licht zu gehen und auf ewig ein Teil von ihm zu werden, rappelte sich auf und zerrte das Schrotgewehr von seiner Schulter. Blendendes Licht zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen, und mehrere Schockwellen trieben ihm die Luft aus den Lungen. Immergrüne Zweige peitschten. Ein Zittern war in der Erde, die elektronischen Schwingungen füllten die Luft, und ein hohes Kreischen, wie von der Knochensäge eines Chirurgen, war zu hören. Die ganze Nacht pochte, der Himmel und die Erde hämmerten, als stieße etwas wiederholt und rücksichtslos gegen die Struktur der Wirklichkeit, ein Pochen, ein Pochen...
Wuuusch!
Das neue Geräusch erinnerte an das Zischen einer vakuumverschlossenen Dose Kaffee oder Erdnüsse, war aber viel, viel lauter. Luft strömte ein, um eine Leere auszufüllen. Unmittelbar nach diesem einzigen, kurzen Wuuusch fiel ein Leichentuch aus Stille über die Nacht, und das überirdische Licht verschwand. Eduardo Fernandez stand in betäubtem Unglauben unter der Mondsichel und starrte eine perfekte Kugel aus reiner Schwärze an, die sich über ihm auftürmte, wie eine riesige Kugel auf einem kosmischen Billardtisch. Sie war so makellos schwarz und hob sich so deutlich von der gewöhnlichen Dunkelheit der Mainacht ab wie das Aufflammen einer Atomexplosion von dem strahlendsten Sommertag. Sie war groß, hatte bestimmt einen Durchmesser von zehn Metern, und füllte den Raum aus, den zuvor die strahlenden Kiefern und der Erdboden eingenommen hatten. Ein Schiff. Einen Augenblick lang glaubte er, ein Schiff mit einer fensterlosen Hülle zu betrachten, die so glatt wie raffiniertes Öl war. In gelähmtem Schrecken wartete er darauf, daß eine Lichtnaht erschien, eine Luke geöffnet und eine Rampe ausgefahren wurde. Trotz der Furcht, die sein Denken beeinträchtigte, wurde Eduardo schnell klar, daß er keinen festen Gegenstand betrachtete. Der Mondschein wurde von der Oberfläche dieses Etwas nicht reflektiert. Das Licht fiel einfach wie in einen Schacht oder in einen Tunnel hinein. Eduardo wußte instinktiv, ohne diese glatte, pechschwarze Oberfläche berühren zu müssen, daß die Kugel kein Gewicht, keine Masse hatte; er hatte nicht die geringste, wenn auch noch so primitive Ahnung, was dort über ihm schwebte, wie es der Fall gewesen wäre, wenn es sich um einen festen Stoff gehandelt hätte. Der Gegenstand war kein Gegenstand; es war keine Kugel, sondern ein Kreis. Nicht drei-, sondern zweidimensional. Eine Schwelle. Geöffnet. Die Dunkelheit hinter der Schwelle wurde von keinem noch so winzigen Schimmer erhellt. Eine so perfekte Schwärze war weder natürlich noch von Menschen voll wahrnehmbar, und Eduardos Augen schmerzten von der Anstrengung, eine Dimension oder eine Einzelheit auszumachen, wo nichts auszumachen war. Er wollte davonlaufen. Statt dessen näherte er sich der Schwelle. Sein Herz pochte, und sein Blutdruck trieb ihn zweifellos einem Schlaganfall entgegen. Er umklammerte die Schrotflinte mit, wie er wußte, pathetischem Vertrauen in ihre Wirksamkeit, stieß sie vor, wie ein primitiver Wilder vielleicht einen mit Runen beschnitzten Talisman schwingen würde, der mit Zähnen wilder Tiere verziert, mit Opferblut befleckt und dem Haarschopf des Stammeszauberers gekrönt war. Doch seine Furcht vor der Tür - und den unbekannten Gefilden und Wesen dahinter - war nicht so lähmend wie die Furcht vor Senilität und dem Zweifel an sich selbst, mit denen er in der letzten Zeit
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