Wintermond
ihr Sohn zu einem Massenmord fähig gewesen war. Er war ihr Baby gewesen, ihr kleiner Junge, ihr anständiger junger Mann, die Verkörperung der besten ihrer Eigenschaften, die Quelle von Stolz und Hoffnung, ihr liebster Schatz. Sie empfand Mitgefühl für sie, hatte Mitleid mit ihnen, betete darum, daß sie, Heather, nie einen Schmerz von der Endgültigkeit erfahren mußte, wie sie ihn erfahren hatten - aber sie wünschte auch, daß sie endlich die Klappe halten und verschwinden würden. Olivers Eltern hatten eine wirksame Medienkampagne inszeniert, die ihren Sohn als freundlichen, talentierten Mann darstellte, der zu der Tat, die man ihm vorwarf, völlig unfähig war. Sie behaupteten, die Uzi, die man am Tatort gefunden hatte, habe nicht ihm gehört. Es ließ sich in der Tat nicht beweisen, daß er solch eine Waffe gekauft oder unter seinem Namen eingetragen hatte. Doch der Besitz einer vollautomatischen Micro Uzi war mittlerweile verboten, und Anson Oliver hatte sie zweifellos auf dem Schwarzmarkt gekauft und bar bezahlt. Es war nichts Geheimnisvolles daran, daß für die Waffe kein Kaufbeleg vorlag und sie nicht eingetragen war. Heather verließ Tobys Zimmer und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück. Sie setzte sich auf die Bettkante und schaltete die Lampe ein. Sie legte den Revolver auf den Nachttisch und beschäftigte sich mit dem Inhalt der drei Portemonnaies. Aus den Führerscheinen erfuhr sie, daß einer der Jungen sechzehn und die beiden anderen siebzehn Jahre alt waren. Sie wohnten in der Tat in Beverly Hills. In einem Portemonnaie fand sie neben Schnappschüssen, auf denen ein nettes, blondes Mädchen im High-School Alter und ein grinsender Irish Setter abgebildet waren, einen Sticker mit einem Durchmesser von fünf Zentimetern, den sie einen Augenblick lang ungläubig anstarrte, bevor sie ihn dann aus dem Plastikfenster fischte. Solche Dinger wurden oft in speziellen Ständern an den Kassen von Schreibwarengeschäften, Drogerien, Schallplattenläden und Buchhandlungen feilgeboten; Kinder verzierten ihre Schulbücher und zahllose andere Gegenstände mit ihnen. Man zog eine Papierfolie ab und enthüllte darunter eine selbstklebende Oberfläche. Dieser Sticker war mit silbernen, geprägten Lettern auf einem leuchtend schwarzen Untergrund versehen:
ANSON OLIVER LEBT.
Jemand wandelte seinen Tod bereits in klingende Münze um. Widerlich. Widerlich und krank. Am meisten war Heather jedoch darüber entsetzt, daß es anscheinend einen Markt gab, auf dem Anson Oliver als legendäre Gestalt, vielleicht sogar als Märtyrer dargestellt wurde. Vielleicht hätte sie damit rechnen müssen. Olivers Eltern waren nicht die einzigen, die sein Image seit dem Schußwechsel emsig aufpolierten. Die Verlobte des Regisseurs, die mit seinem Kind schwanger ging, behauptete, er habe schon lange keine Drogen mehr genommen. Er war zweimal wegen Fahrens unter dem Einfluß von Rauschmitteln verhaftet worden; doch man behauptete, diese kleinen Ausrutscher gehörten der Vergangenheit an. Die Verlobte war Schauspielerin; sie war nicht nur wunderschön, sondern hatte eine sensible, geradezu weltentrückte Aura, die ihr jede Menge Auftritte in den Fernsehnachrichten sicherte; ihre großen, entzückenden Augen schienen sich jeden Moment mit Tränen füllen zu wollen. Mehrere Kollegen des Regisseurs hatten im The Hollywood Reporter und der Daily Variety ganzseitige Anzeigen geschaltet, in denen sie den Verlust eines so kreativen Talents betrauerten, ausführten, daß seine kontroversen Filme zahlreiche Personen in Machtpositionen aufgebracht hatten, und andeuteten, daß er für seine Kunst gelebt hatte und gestorben war. Aus alledem mußte man den Schluß ziehen, daß man ihm die Uzi untergeschoben hatte, genau wie das Kokain und PCP. Da alle Passanten in der Nähe der Tankstelle der Arkadians sich in Deckung geworfen hatten, als die Schüsse erklungen waren, hatte niemand mit eigenen Augen gesehen, daß Anson Oliver eine Waffe in der Hand gehalten hatte - bis auf die Menschen, die er erschossen hatte, und bis auf Jack. Mrs. Arkadian hatte sich im Büro versteckt und den Schützen nicht gesehen; als sie das Gebäude mit Jack verlassen hatte, war sie praktisch blind gewesen, weil Rauch und Ruß ihre Kontaktlinsen verschmiert hatten. Zwei Tage nach dem Schußwechsel hatte Heather eine neue, nicht eingetragene Telefonnummer beantragen müssen, da Fans von Anson Oliver pausenlos bei ihr anriefen. Viele davon hatten ihr eine düstere Verschwörung
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