Wintermond
das System gegen sie war, unfair, ohne Gerechtigkeit, daß es nicht einmal lohnte, es auch nur zu versuchen. Vielleicht hatte aber auch nichts von alledem etwas damit zu tun. Sie wußte es nicht. Sie wußte nicht einmal, ob es sie überhaupt interessierte. Nichts, was sie tat oder sagte, würde bewirken, daß diese Kinder sich änderten. Alle drei hielten das Bargeld in der einen und das Portemonnaie in der anderen Hand und warteten gespannt. Die nächste Frage hätte sie beinah nicht gestellt, doch dann überlegte sie es sich anders: »Hat einer von euch Kreditkarten?«
Unglaublicherweise war dies bei zweien der Fall. Sie gingen noch auf die High-School und hatten Kreditkarten. Der Junge, den Heather gegen die Mauer geworfen hatte, hatte Karten von American Express und Visa. Der mit der Rolex hatte eine MasterCard. Während sie die Burschen musterte und ihre besorgten Blicke im Mondschein erwiderte, fand sie lediglich in der Gewißheit Trost, daß die meisten Kinder nicht wie diese drei waren. Die meisten bemühten sich, auf moralische Art und Weise mit einer unmoralischen Welt klarzukommen, und würden als Erwachsene gute Menschen sein. Vielleicht würde auch aus diesen verzogenen Bälgern noch etwas Anständiges werden, zumindest aus einem oder zwei von ihnen. Aber wie hoch war der Prozentsatz derer, die heutzutage die moralische Orientierung verloren, nicht nur bei Teenagern, sondern in jeder Altersgruppe? Zehn Prozent? Sicherlich mehr. So viel Straßen- und Wirtschaftskriminalität, so viel Lug und Betrug, Gier und Neid. Zwanzig Prozent? Und welchen Prozentsatz konnte eine Demokratie verkraften, bevor sie zusammenbrach? Sie deutete auf eine Stelle hinter ihr. »Werft eure Portemonnaies auf den Bürgersteig«, sagte sie. Sie taten wie geheißen.
»Steckt das Geld und die Kreditkarten in eure Taschen.«
Sie schauten verblüfft drein, gehorchten aber.
»Ich will euer Geld nicht. Im Gegensatz zu euch bin ich kein kleiner, mieser Verbrecher.«
Sie umfaßte den Revolver mit der rechten Hand, während sie mit der linken die Portemonnaies einsammelte. Sie stand auf und trat von ihnen zurück, wobei sie den rechten Fuß genauso wie den linken belastete, bis sie mit dem Rücken an der Garagenmauer stand. Sie stellte ihnen keine der Fragen, die ihr durch den Kopf gegangen waren. Ihre Antworten - falls sie welche hatten - würden schlagfertig ausfallen. Sie war der Schlagfertigkeit überdrüssig. Die moderne Welt knarrte auf einem Schmiermittel aus oberflächlichen Lügen, öligen Ausflüchten und glatten Rechtfertigungen dahin.
»Ich will nur wissen, wer ihr seid«, sagte Heather und hob die Hand, in der sie die Portemonnaies hielt. »Jetzt weiß ich, wie ihr heißt und wo ich euch finden kann. Wenn ihr uns noch einmal zu schaffen macht, wenn ihr auch nur am Haus vorbeifahrt und auf den Rasen spuckt, werde ich euch alle zur Strecke bringen. Ich lasse mir Zeit, warte den richtigen Augenblick ab.« Sie spannte den Hammer des Korth, und die Jungs sahen von ihr zu dem Revolver. »Mit einer größeren Knarre als der hier, ein großes Kaliber, Hohlmantelgeschosse. Ein Schuß ins Bein, und der Knochen ist so übel zersplittert, daß sie amputieren müssen. Ich schieße euch in beide Beine, und ihr sitzt den Rest eures Lebens im Rollstuhl. Vielleicht schieße ich auch einen von euch in die Eier, damit ihr nicht noch mehr von eurer Sorte in die Welt setzen könnt.«
Wolken glitten über den Mond. Die Nacht war dunkel. Vom Hinterhof kam das heisere Krächzen von Kröten. Die drei Jungen starrten die Frau an. Sie wußten nicht genau, ob die Ansprache bedeutete, daß sie jetzt gehen durften. Sie hatten damit gerechnet, der Polizei überstellt zu werden. Das kam natürlich nicht in Frage. Die Frau hatte zwei von ihnen verletzt. Beide Verletzte hielten noch die Hände behutsam zwischen die Beine gedrückt, und ihre Gesichter waren schmerzverzerrt. Außerdem hatte die Frau sie außerhalb ihres Hauses mit einer Waffe bedroht. Man würde gegen sie anführen, daß die Jungen keine echte Bedrohung dargestellt hatten, weil sie ihre Schwelle nicht überschritten hatten. Obwohl sie ihr Haus bei drei verschiedenen Gelegenheiten mit haßerfüllten und obszönen Graffiti besprüht hatten, obwohl sie ihr und ihrem Kind finanziellen und gefühlsmäßigen Schaden zugefügt hatten, wußte sie, daß der Umstand, die Frau eines heldenhaften Polizisten zu sein, keine Garantie gegen eine strafrechtliche Verfolgung wegen einer Vielzahl von
Weitere Kostenlose Bücher