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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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allein essen und sich die Nase putzen. Er empfand Ehrfurcht vor Menschen, die dauerhaft querschnittsgelähmt waren, aber Freude am Leben hatten und der Zukunft mit Hoffnung entgegensahen, weil er wußte, daß er weder ihren Mut noch ihre Charakterstärke hatte, ganz gleich, ob er als beliebtester Patient der Woche, des Monats oder Jahrhunderts galt.
    Hätte man ihm drei Monate lang den Gebrauch seiner Beine und Hände entzogen, hätte Verzweiflung ihn niedergedrückt. Und hätte er nicht gewußt, daß er am Sommeranfang aus dem Bett kommen und wieder laufen lernen würde, wäre er angesichts der Aussicht auf eine langfristige Hilflosigkeit verrückt geworden. Hinter dem Fenster seines Zimmers im zweiten Stock konnte er wenig mehr als die Kronen eine großen Palme sehen. Über die Wochen hinweg beobachtete er unzählige Stunden, wie die Palmwedel in der sanften Brise zitterten, von Sturmwinden geschüttelt wurden, sich hellgrün vom blauen Himmel und dunkelgrün von Regenwolken abhoben. Manchmal schossen Vögel durch diesen eingerahmten Teil des Himmels, und Jack freute sich jedesmal, wenn er einen kurzen Blick auf ihren Flug werfen konnte. Er schwor sich, daß er, wenn er erst wieder auf den Beinen war, nie wieder hilflos sein würde. Er war sich der Hybris eines solchen Eids bewußt; ob er ihn einhalten konnte, hing von den Launen des Schicksals ab. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Doch was dieses Thema betraf, konnte er nicht über sich selbst lachen. Er würde nie wieder hilflos sein. Niemalsl Er forderte Gott heraus: Laß mich in Ruhe oder töte mich, aber lege mich nie wieder in diesen Schraubstock. Der Captain von Jacks Abteilung, Lyle Crawford, besuchte ihn am Abend des dritten Juni zum drittenmal im Krankenhaus. Crawford war ein unauffälliger Mann von durchschnittlicher Größe, braunen Augen und brauner Haut, sozusagen alles im gleichen Farbton. Er trug Hush Puppies, schokoladenbraune Freizeithosen, ein braunes Hemd und ein schokoladenbraunes Jackett, als wäre es sein größter Wunsch, so unauffällig zu sein, daß er mit jedem Hintergrund verschmelzen und vielleicht sogar unsichtbar werden könne. Er trug auch eine braune Mütze, die er abnahm und in beiden Händen hielt, als er neben dem Bett stand. Er sprach leise und lächelte gern, hatte aber auch doppelt so viele Tapferkeitsauszeichnungen wie jeder andere Cop in der Ab teilung bekommen und war eine geborene Führungspersönlichkeit. »Wie geht es Ihnen?« fragte Crawford.
    »Mein Aufschlag ist besser geworden, aber meine Rückhand ist noch immer mies«, sagte Jack.
    »Halten Sie den Schläger etwas schief.«
    »Sie meinen, das ist mein Problern?«
    »Das und die Tatsache, daß Sie nicht aufstehen können.« Jack lachte. »Wie läuft's so in der Abteilung, Captain?«
    »Wie immer. Heute morgen gingen zwei Burschen in ein Juweliergeschäft am Westwood Boulevard, direkt, nachdem der Laden aufgemacht hat, mit Schalldämpfern an den Pistolen. Sie erschießen den Besitzer und zwei Angestellte, knallen sie einfach über den Haufen,
    bevor jemand Alarm auslösen kann. Draußen hört keiner was.
    Schränke voller Schmuck, im Hinterraum steht der große Safe offen, in dem die schönsten Stücke liegen, im Wert von ein paar Millionen Dollar. Sieht jetzt wie das reinste Kinderspiel aus. Dann kriegen die beiden Typen Streit darüber, wer was als erster nehmen darf und ob sie Zeit haben, sämtliche Stücke mitzunehmen. Der eine läßt 'ne Bemerkung über die bessere Hälfte des anderen fallen, und bevor man sich versieht, ballern sie aufeinander los.«
    »Großer Gott.«
    »Ein paar Minuten später kommt ein Kunde herein. Vier Tote und ein halb bewußtloser Räuber auf dem Boden, der so schwer verletzt ist, daß er nicht mal aus dem Laden kriechen und abhauen kann. Der Kunde steht einfach da, ist völlig schockiert, wie gelähmt, überall Blut, die reinste Schweinerei. Der verletzte Räuber wartet darauf, daß der Kunde was unternimmt, und als der Typ einfach wie erstarrt dasteht und gafft, sagt der Räuber: >Um Gottes willen, Mister, rufen Sie einen Krankenwagen! <
    »>Um Gottes willen<«, sagte Jack.
    »>Um Gottes willen.< Als der Krankenwagen kommt, bittet der Gangster die Sanitäter zuallererst um eine Bibel.«
    Jack drehte den Kopf auf dem Kissen ungläubig hin und her. »Schön zu wissen, daß nicht aller Abschaum auf den Straßen gottloser Abschaum ist, was?«
    »Da wird einem richtig warm ums Herz.«
    Jack war der einzige Patient im Zimmer. Sein letzter

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