Wintermond
Freunde nichts davon hatten, wie er auf ein Unglück reagierte, kam er nicht gegen dese Sichtweise an. Soweit er sich erinnern konnte, war er schon so geboren worden. Während ein Pessimist ein Weinglas betrachtete und es als halbleer ansah, sah Jack es nicht nur als halb voll an, er war auch noch der Überzeugung, daß die Flasche ebenfalls noch nicht geleert war. Er lag in einem Körpergips und war auf absehbare Zeit dienstunfähig, schätzte sich aber glücklich, nicht auf Dauer gelähmt oder gar tot zu sein. Klar, er hatte Schmerzen, aber es gab in demselben Krankenhaus Menschen, die stärkere Schmerzen als er hatten. Bis das Glas als auch die Flasche leer waren, würde er sich immer auf den nächsten Schluck Wein freuen, statt zu bedauern, daß nur noch so wenig übrig war. Als Toby seinen Vater im März zum erstenmal im Krankenhaus besucht hatte, hatte es ihn entsetzt, Jack so unbeweglich zu sehen. Ihm waren die Tränen in die Augen geschossen, aber er hatte sich auf die Lippe gebissen, die Ohren steifgehalten und versucht, tapfer zu sein. Jack seinerseits hatte versucht, die Ernsthaftigkeit seiner Verlegungen herunterzuspielen, hatte darauf bestanden, daß es schlimmer aussah, als es war, und mit wachsender Verzweiflung versucht, seinem Sohn Mut zu machen. Schließlich hatte er den Jungen zum Lachen gebracht, indem er behauptete, gar nicht verletzt zu sein, sondern als Teilnehmer eines neuen Geheimprogramrns der Polizei im Krankenhaus zu liegen. In ein paar Monaten würde er als Mitglied der neuen Teenage-MutantNinja Turtle-Sondereinheit entlassen werden.
»Doch«, sagte er, »bestimmt. Deshalb auch der Gips, das ist ein Panzer für meinen Rücken wie bei einer Schildkröte. Wenn er erst getrocknet und mit Kevlar überzogen ist, werden die Kugeln einfach so von mir abprallen.«
Toby lächelte, obwohl ihn eigentlich gar nicht danach zumute war, und fuhr sich mit einer Hand über die Augen.
»Das ist doch Blödsinn, Dad.« sagte er.
»Nein, es stimmt.«
»Du kannst doch gar kein Taekwondo.«
»Sobald der Panzer trocken ist, nehme ich Unterricht.«
»Ein Ninja muß auch wissen, wie man mit dem Schwert kämpft und mit allen möglichen anderen Waffen.«
»Na und? Das kann man alles lernen.«
»Aber da gibt es noch ein Problem, und zwar ein großes.«
»Was für eins?«
»Du bist keine Schildkröte.«
»Natürlich bin ich keine Schildkröte. Sei doch nicht dumm. Bei der Polizei dürfen nur Menschen arbeiten. Die Leute mögen es nicht, wenn sie von Mitgliedern anderer Rassen Strafzettel bekommen. Also müssen wir mit einer nachgemachten Teenage-Mutant-Ninja TurtleSondereinheit auskommen. Na und? Ist Spider-Man wirklich eine Spinne? Ist Batman wirklich eine Fledermaus?«
»Das hat was für sich.«
»Und ob. Das kannst du laut sagen.«
»Aber.«
»Aber was?«
»Du bist kein Teenager«, sagte der Junge grinsend.
»Ich gehe doch problemlos als Teenager durch.«
»Nichts da. Du bist ein alter Knacker.«
»Ach was?«
»Ein wirklich alter Knacker.«
»Sobald ich aus diesem Bett herauskomme, kannst du was erleben, mein Sohn.«
»Ja, aber bis dein Panzer trocken ist, kann mir nichts passieren.«
Als Toby ihn das nächste Mal besuchte - Heather kam jeden Tag,
aber Toby durfte sie nur ein- oder zweimal die Woche begleiten -, trug Jack ein farbenfrohes Stirnband. Heather hatte ihm ein rot und gelb gestreiftes Tuch mitgebracht, das er zusammengefaltet und sich um den Kopf gebunden hatte. Die Enden des Knotens hingen verwegen über sein rechtes Ohr.
»Der Rest der Uniform ist noch in Arbeit«, sagte er zu dem Jungen. Ein paar Wochen später, an einem Tag Mitte April, zog Heather den Vorhang um Jacks Bett und wusch ihn mit Schwamm und Seife, um den Schwestern etwas Arbeit abzunehmen.
»Ich weiß nicht genau, ob es mir gefällt« sagte sie, »daß andere Frauen dich waschen. Ich werde allmählich eifersüchtig.«
»Ich schwöre dir«, sagte er, »ich kann dir erklären, wo ich letzte Nacht war.«
»Im ganzen Krankenhaus gibt es keine einzige Schwester, die mir nicht gesagt hat, daß du ihr Lieblingspatient bist.«
»Ach was, Schatz, das hat doch nichts zu bedeuten. Jeder könnte ihr Lieblingspatient sein. Das ist ganz einfach. Man darf ihnen nur nicht ständig sein Leid klagen und keine Witze über ihre kleinen Häubchen machen.«
»So einfach ist das?« sagte sie und wusch mit dem Schwamm seinen linken Arm.
»Na ja, man muß auch alles aufessen, was sie einem bringen, darf sie niemals
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