Wintermond (German Edition)
Freibrief wäre, fuhr dadurch jeder so, wie er es offensichtlich für richtig hielt.
Alex hingegen fuhr die Elbchaussee langsam entlang. Links von ihm zogen die vielen Villen vorbei, rechts von ihm reihten sich kahle Bäume, von dessen vielen Ästen und Zweigen Schnee aufgefangen worden war und das winterliche Bild damit perfekt werden ließ.
Es war keine weite Strecke von Nienstedten nach St. Pauli, doch kam ihm genau diese durch das langsame Fahren am heutigen Tag wie eine Ewigkeit vor. Alex’ Magen knurrte und ließ ihn seinen Hunger spüren. Bislang hatte er noch nichts gegessen. Er war auf dem Weg zu seinem Kumpel, Diego, um mit diesem über die Schulden zu sprechen. Vielleicht würden sie gemeinsam eine Lösung finden. So wie Alex Diego kannte, musste er zu Hause sein. Vermutlich schlief er sogar noch oder saß vor seinem Fernseher, trank und leerte eine Chipstüte nach der anderen.
Zu seiner Linken wurden die Häuser kleiner und normalbürgerlicher. Von diesem nahtlosen Übergang fühlte sich auch Alex betroffen. Je weiter er fuhr, umso unwichtiger und hilfloser kam er sich vor, als ob man einem Kind mit einem Mal den Schutz der Eltern nahm und es in die weite Welt hinausschickte. Alex hasste dieses Gefühl, konnte es sich selbst nicht erklären. Vermutlich war er schon immer ein Schwächling gewesen, versuchte dies nur gekonnt zu überspielen. Sein Vater bestätigte ihn ja nahezu täglich darin, dass er nichts konnte und im Leben völlig unfähig war. Irgendwo, tief in seinem Inneren, wusste er, dass sein Vater ein wenig Recht hatte. Es war wahr, dass er sein Leben nicht mehr vollständig unter Kontrolle hatte und ohne es zu merken auf die falsche Bahn geraten war. Doch so absurd es auch klang, fühlte er sich in seiner Rolle wohl. In der Welt der Schönen und Reichen spielte er gern den Bösen und konnte sich dabei besser denn je mit sich selbst identifizieren. Doch außerhalb dieser trügerischen Welt war er noch immer ein Niemand, der sich von anderen mitziehen ließ und vergeblich versuchte, sich in die Reihe der Außenseiter mit einzugliedern. Denn genau so fühlte er sich - wie ein Außenseiter.
Gerade als Alex schließlich aus der Palmaille in die Breite Straße fuhr, klingelte sein Handy. Er dachte, dass es vermutlich Diego war, den er an diesem Vormittag sehr oft zu erreichen versucht hatte, doch stattdessen meldete sich eine viel tiefere Stimme am anderen Ende des Hörers. Alex wusste sofort, dass es der Kerl war, dem er das viele Geld schuldete. Nervös biss er sich auf die Unterlippe, versuchte sich dabei weiterhin auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.
„Hast du das Geld?“, fragte der gebürtige Spanier mit einem leichten Akzent.
Alex wusste nicht, wie sein Gesprächspartner hieß. Innerlich musste er fast über diese Erkenntnis lachen. Er schuldete jemandem 40.000 Euro und kannte dabei nicht einmal dessen Namen.
„Nein“, antwortete Alex, „aber es dauert nicht lange, dann werd’ ich es haben.“
„Das war anders ausgemacht, wenn ich mich recht entsinne. Oder etwa nicht?“
Alex konnte sich sowohl Gestik als auch Mimik des anderen vorstellen. Vermutlich saß er auf einem Stuhl, leicht nach hinten gekippt vor einem dreckigen Fenster seines Unterschlupfes. Er rauchte sehr wahrscheinlich eine Zigarette, grinste dreckig und hielt ständigen Blickkontakt mit seinen Komplizen, die ihm wie dumme Hunde gegenüber saßen und auf das Fingerschnippen ihres Herrchens warteten.
„Ich hab’ mit meinem Vater geredet. Er hat das Geld ja. Er will’s mir aber erst geben, wenn ich dafür gearbeitet habe“, erklärte Alex. „Können wir uns nicht irgendwie auf kleine Raten einigen? Nur dieses eine Mal. Ihr wisst, dass ich sonst immer pünktlich bezahlt habe.“
„Willst du mich verarschen?“, war das einzige, was der andere entgegnete und dabei alles andere als zufrieden klang.
„Nein, ich ...“, begann Alex, doch wurde er augenblicklich unterbrochen.
„Du schaffst die Kohle hier her, hast du verstanden?“, der Typ klang bedrohlich.
„Aber ich ...“, Alex wurde zunehmend unsicher und zusammen mit seiner Nervosität verstärkte er unbewusst den Druck auf das Gaspedal.
„Ich fragte, ob du mich verstanden hast, Mister Tannenberger?“
„Wie soll ich das anstellen?“, fragte Alex zurück.
Mit einer Hand lenkte er an parkenden Autos vorbei. Durch die Geschwindigkeit geriet sein Auto dabei minimal ins Schlittern.
„Wie du das anstellst, ist uns egal“, erwiderte der
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