Wintermond (German Edition)
Erinnerung mit dem Eingang vor sich und nickte dann zufrieden. Das Haus, an dessen Fassade ein schwarzer Graffitischriftzug verewigt war, musste es sein. Alex schritt zur Haustür und betrachtete die verschiedenen Namensschilder neben den Klingeln. Während er nach Diegos Namen suchte, trat er sich die Schuhe ab und verteilte damit Schnee auf der billigen Fußmatte. Da er den Namen „Diego“ nach mehrmaligem Durchsehen nicht finden konnte und dessen Nachname nicht wusste, versuchte er es spontan an der einzigen, unbeschrifteten Klingel und drückte fest auf den dreckigen Knopf. Dann wartete er und hauchte sich zwischendurch immer wieder in die Hände, um diese einigermaßen aufzuwärmen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm eine bekannte Stimme durch die Gegensprechanlage entgegen schallte: „Wer ist da?“
„Diego!“, antwortete Alex und beugte sich dabei weiter nach vorn. „Ich bin’s, Alex.“
Mehr brauchte er nicht sagen, denn kaum hatte er ausgesprochen, summte die Eingangstür und gewährte ihm Einlass. Alex durchquerte den düsteren Flur, in dem es nach Zigarettenqualm und tagelang ungeputzten Kneipentoiletten stank. Er hielt sich am Gelände fest, an dem die meiste Farbe bereits abgesplittert war, und ging die Treppe hinauf. Im vierten und letzten Stock erwartete ihn schließlich eine geöffnete Tür, vor der er unsicher stehen blieb.
„Diego?“, rief er und spähte in das Wohnungsinnere, in dem es nicht viel besser als im Treppenhaus roch.
„Ich bin hier“, antwortete der Angesprochene und trat um die Ecke.
„Hey!“, begrüßte Alex ihn mit einem Handschlag.
„Komm rein!“, bat Diego und machte dazu eine übertriebene Geste, die Alex offenbar zum Betreten der Wohnung ermutigen sollte.
Alex fand sich kurz darauf im Flur der Wohnung wieder und musterte die fremde Umgebung skeptisch.
„Und hier fühlst du dich wohl?“, fragte er dann und klang dabei herablassender, als er es gewollt hatte.
„Es kann ja nicht jeder so einen reichen Papi haben“, gab Diego zurück und führte ihn dabei in ein Zimmer, das neben dem Bad der einzige Raum der Wohnung zu sein schien. In ihm vereinten sich Küche, Schlaf- und Wohnzimmer.
Diego ließ sich auf einer durchgesessenen Couch nieder und zündete sich eine Zigarette an. Alex musterte ihn skeptisch. Auch er hatte lange Zeit geraucht. Jetzt tat er dies nur noch gelegentlich, wollte eigentlich ganz aufhören. Doch der bittere Nikotingeruch löste ein leichtes Kribbeln und Verlangen in ihm aus. Dies versuchte er allerdings zu ignorieren und setzte sich stattdessen neben Diego auf die Couch. Der Fernseher war eingeschaltet. Es lief irgendein schlechter Porno, den Diego erst auf Alex’ Blick hin ausschaltete.
„Warum gehst du nie an dein Handy?“, fragte Alex, um ein Gespräch zu beginnen.
„Ich hab’ bis eben gepennt“, antwortete der Schwarzhaarige und aschte in einer Bierdose ab.
Alex nickte.
Die Wohnung war vollkommen herunter gekommen. Überall lagen Müll und leere Flaschen, mitten dazwischen Kleidung und Essensreste. Der gläserne Couchtisch hatte bereits einen großen Sprung, den man nur deswegen kaum sehen konnte, weil zu viel Staub und Dreck darauf verteilt war. Die ganze Atmosphäre der Wohnung animierte Alex nicht unbedingt dazu, seine Jacke auszuziehen. In ihr fühlte er sich sicherer - wie eingehüllt in eine Schutzfolie, durch die der Schmutz und Gestank nicht vollkommen zu ihm vordringen konnte.
Diego sah mitgenommen aus. Das Weiße seiner Augen war leicht gerötet, seine schwarzen Haare bildeten fettige Strähnen, die an seiner Stirn und seinen Ohren klebten. Er trug ein schlichtes rotes T-Shirt und eine weiße Jogginghose. Sein eigentlich durch die Herkunft geprägter, dunkler Teint wirkte blass und farblos.
Alex erinnerte sich daran, wie er den jungen Italiener unaufgefordert mit in das heikle Pokerspiel gezogen hatte, bei dem letztendlich die hohen Schulden entstanden waren.
„Diego“, begann er ruhig, „das mit letztens tut mir leid.“
Erst diese Worte schienen das südliche Temperament seines Kumpels geweckt zu haben. Diego sprang förmlich von der Couch auf, gestikulierte wild und fragte fassungslos: „Es tut dir leid?“
Alex senkte den Blick, nickte kaum merklich. Erst nach ein paar Sekunden sah er wieder auf, als hätte er für einen Augenblick frische Kraft getankt.
„Es ist halt dumm gelaufen“, tat er ab, als ginge es um eine Kleinigkeit.
„Alex, du hast mich mit in die Scheiße gezogen“, entgegnete
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