Wintermond (German Edition)
oder etwas anderem lag.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtig. „Soll ich später wieder kommen?“
Jo wandte sich das erste Mal, seit Ben das Zimmer betreten hatte, vom Computerbildschirm ab und blickte auf.
„Nein, nein. Ist schon in Ordnung“, erwiderte er.
Ben erinnerte sich daran, wie Alex am Frühstückstisch mit seinem Vater hatte reden wollen und hakte daraufhin vorsichtig weiter nach: „Ist was mit Alex?“
„Er treibt mich zurzeit in den Wahnsinn“, erklärte Jo, nahm seine Brille ab und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken.
Ben hatte so viele Fragen, wartete jedoch zunächst einmal ab und schwieg.
„Könnte ich’s mir aussuchen, würde ich dich gegen Alex eintauschen“, meinte Jo und lachte kurz auf, als ob er scherzte, obwohl eindeutig Wahrheit in seinen Worten mitschwang.
Ben wusste nicht, was er auf diese Aussage hin sagen sollte. Irgendetwas musste zwischen Alex und Jo vorgefallen sein. Etwas, das einen derartigen Keil zwischen die beiden getrieben hatte und Jo nun so über seinen eigenen Sohn reden ließ.
„Warum ist Alex so abweisend zu mir?“, fragte Ben schließlich und versuchte damit von Jos vorherigem Kommentar abzulenken, um nicht darauf reagieren zu müssen.
„Er ist zu jedem so“, antwortete Jo. „Es ist einfach seine Art.“
„Hatte er die denn schon immer?“, versuchte Ben es weiter.
Er wusste selbst nicht, warum er sich so sehr für den Blonden interessierte. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass er von Natur aus neugierig war und die ganze Situation verstehen wollte.
„Weißt du, Ben“, begann Jo und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, faltete dabei die Hände auf seinem Schoß, „er hat in kürzester Zeit alles verloren, was ihm wichtig war. Erst seine Mutter, dann seinen besten Freund. Seitdem versucht er zwanghaft, seine Trauer im Keim zu ersticken und ist dabei an die falschen Leute geraten. Der schlechte Umgang färbt immer mehr auf ihn ab, aber von mir lässt er sich nicht reinreden. Er vernachlässigt sich selbst, sein Studium und wagt es dabei sogar noch, mich ständig nach Geld anzubetteln“, er hielt einen Moment lang inne, bevor er fortfuhr. „Ich erkenne meinen Sohn längst nicht mehr wieder. Es ist so viel passiert, dass wir uns eigentlich aufeinander hätten zubewegen sollen, doch stattdessen haben wir uns immer weiter voneinander entfernt. Ich kann Alex mittlerweile einfach nicht mehr helfen und wenn ich recht darüber nachdenke, will ich das auch gar nicht mehr.“
Ben hatte aufmerksam zugehört und suchte nun nach den richtigen Worten, um etwas erwidern zu können, doch fiel im vorerst nichts Passendes ein. Er dachte über das Gesagte nach und fragte sich, was mit Jos Frau und Alex’ besten Freund geschehen war. Doch danach wollte er keinesfalls fragen. Alles, was Jo ihm soeben offenbart hatte, klang plausibel, dennoch nicht vollständig nachvollziehbar für Ben. So sympathisch er Jo bislang gefunden hatte, konnte er nicht verstehen, dass dieser seinen eigenen Sohn aufgegeben zu haben schien. Er dachte an seine Eltern und daran, wie diese immer hinter ihm standen, egal was er tat oder eben nicht tat. Seine Eltern würden niemals in einer Art und Weise von ihm sprechen, wie Jo es gerade über Alex getan hatte.
„Vielleicht ist sein Verhalten ja nur ein Hilfeschrei“, dachte Ben laut weiter.
„Es wäre schön, wenn dem so wäre“, erwiderte Jo und nippte kurz darauf an einem Wasserglas.
„Aber du sagst doch selbst, dass er früher anders gewesen ist.“
„Sagte ich das?“, fragte Jo.
„Naja, du hast gesagt, dass du Alex selbst nicht mehr wieder erkennst“, verteidigte Ben seine Vermutung.
„Das bedeutet ja nicht unbedingt, dass er mal anders war. Er ist schon immer ein arroganter Kerl gewesen, den man nur sehr schlecht einschätzen konnte. Doch zu Lebzeiten seiner Mutter hatte er sich wenigstens noch an Regeln gehalten und sich um seine Zukunft bemüht. All das scheint ihm längst gleichgültig geworden zu sein“, erzählte Jo.
Ben wusste darauf nichts mehr zu erwidern. Er merkte außerdem, dass Jo dem Anschein nach nicht weiter über derart Persönliches reden wollte.
„Verstehe“, gab Ben lediglich leise zurück.
Er beobachtete, wie Jo seine Brille wieder aufsetzte und die Maus des Laptops bewegte, um den schwarzen Bildschirmschoner auszuschalten und sich wieder seiner Arbeit widmen zu können.
Während er sichtlich konzentriert wirkte, fragte er dennoch an Ben gerichtet:
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