Wintermond (German Edition)
mit seinen Händen über die Augen. Er krempelte seinen linken Jackenärmel zurück und fand mit einem Blick auf seine Armbanduhr heraus, dass es bereits kurz nach Mitternacht war. Er fluchte innerlich. Wäre er früher in Flensburg losgefahren und hätte ihn kein plötzlicher Schneefall überrascht, befände er sich jetzt nicht in dieser prekären Situation. Die Innenscheiben waren längst wieder beschlagen, Bens Hände wurden von Minute zu Minute kälter. Was sollte er tun? Er konnte nicht um diese Uhrzeit bei jemand Fremden klingeln. Höchstwahrscheinlich würde er es sich dann sofort mit Johannes Tannenberger verscherzen. Genau das wollte Ben in keinem Fall riskieren. Er könnte zurück fahren und sich ein günstiges Hotel suchen, doch von den glatten Straßen und der gefühlten Orientierungslosigkeit hatte er vorerst genug. Ihm blieb also lediglich die Option, in seinem Auto zu übernachten. Doch die winterliche Kälte würde ihn womöglich schon nach wenigen Stunden zerfressen.
Erneut rieb Ben sich die Augen und wollte gerade sein Handy hervorkramen, als jemand von außen gegen das Seitenfenster seines Wagens klopfte.
Ben, der in Gedanken vertieft gewesen war, erschrak im ersten Moment. Als er seine Müdigkeit dann etwas von sich geschüttelt hatte, ließ er das Fenster ein Stück weit hinunter und spähte unsicher in die Dunkelheit.
Erst einige Sekunden später trat jemand vor sein Fenster und blickte skeptisch ins Wageninnere.
„Was willst du hier? Bist du einer von denen?“, wurde Ben streng von einer jungen, männlichen Stimme gefragt.
Noch immer konnte Ben nicht mehr als eine dunkle Gestalt vor sich erkennen.
„Kleinen Moment ...“, murmelte er, schloss das Fenster wieder und stieg aus dem Wagen.
Er wollte sich gerade umdrehen und an den Fremden wenden, als dieser sich schon auf ihn stürzte und ihn grob gegen die Karosserie drückte. Zwei blaugraue Augen blickten finster auf ihn herab. Ben war so überrumpelt worden, dass er erst etwas verzögert reagierte.
„Geht’s noch?“, fragte er irritiert und versuchte sich loszureißen.
„Ich hab’ dich was gefragt. Bist du einer von denen oder was suchst du mitten in der Nacht hier draußen?“, wiederholte sein Gegenüber sich und wirkte dabei zunehmend bedrohlich.
„Einer von wem? Ich bin wegen des Praktikums hier“, verteidigte Ben sich und merkte daraufhin endlich, wie sich der feste Griff an seinen Oberarmen lockerte. Einen Augenblick später ließen die in Handschuhe gehüllten Hände ganz von ihm ab.
Ben strich sich die zerzauste Jacke glatt und blickte dann auf. Der fremde Kerl schob sich die Kapuze vom Kopf und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Vereinzelte Strähnen von blondem, mittellangem Haar fielen ihm ins Gesicht. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete er Ben skeptisch. Auch wenn es sehr dunkel war, erkannte Ben, dass sein Gegenüber etwa gleich alt sein musste. Mit einem Mal erinnerte er sich wieder an die Worte seines Vaters und daran, wie dieser etwas von Johannes’ Sohn, der ebenfalls Architektur studierte, erzählt hatte.
„Alexander, richtig?“, fragte Ben schließlich und lachte kurz verlegen. „Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ich bin übrigens Ben“, er streckte dem anderen seine rechte Hand entgegen, „Ben Richter.“
Der andere schwieg weiterhin, blickte lediglich misstrauisch in seine Richtung. Er machte keine Anstalten, als ob er den angebotenen Handschlag annehmen wollte. Ben kam sich aufgrund dessen völlig lächerlich vor, seufzte und zog seine Hand daraufhin wieder zurück.
„Wen hast du denn anstatt mir hier erwartet?“, fragte Ben und erinnerte sich daran, wie sich der Blonde vor wenigen Minuten auf ihn gestürzt hatte.
„Das geht dich nichts an“, antwortete dieser bestimmt.
„Aber du bist schon Alexander oder nicht?“, wiederholte Ben seine Frage, woraufhin sein Gegenüber knapp nickte und dabei seinen schwarzen Schal fester zog.
Ben sah, wie Alex’ Atem in der Luft kondensierte und sich Schneeflocken in dessen blonden Haar verfingen. Sein schmales Gesicht wirkte streng: die hohen Wangenknochen, die schmalen Lippen und die ausdrucksstarken Augen, in denen man allerdings vergeblich nach Emotionen suchte. Es wirkte beinahe, als sei das schöne Gesicht nur eine Fassade, hinter der sich vermutlich jemand Interessantes verbarg. Alex wirkte charakterlich kühl, dabei aber auf eine merkwürdige Art und Weise attraktiv. Ben riss sich selbst aus den Gedanken.
„Na
Weitere Kostenlose Bücher