Wintermond (German Edition)
richtete sie auf Diego.
Dieser schien Alex’ Zustand erst nach einigen Sekunden zu bemerken.
„Das ist alles deine Schuld“, brachte Alex unpassend ruhig hervor. Er klang teilnahmslos, nur seine Stimme zitterte.
Diego blickte entsetzt in seine Richtung. Nun war er es, der hilflos aussah.
„Scheiße, Alex ...“, erwiderte er undeutlich, „das war ’n Unfall.“
Doch Alex ignorierte seine Worte. Sämtliche seiner Gesichtsmuskeln waren angespannt. In seinen Augen spiegelte sich blanker Hass wider. Das Adrenalin in seinen Adern vermehrte sich noch einmal heftig. Er umklammerte die Waffe so fest er konnte und zitterte am ganzen Körper.
„Wenn Ben stirbt“, fauchte er, „dann bring ich dich um!“
Er legte seinen Daumen auf den Abzug. Seine Atmung beschleunigte sich immens. Am liebsten hätte er abgedrückt, doch fehlte ihm dafür noch der letzte Deut Mut.
„Alex, bitte!“, flehte Diego, „lass uns nochmal über alles reden!“
Alex hielt die Waffe noch immer in dessen Richtung. Diegos Gewinsel ließ ihn völlig kalt. Es war lediglich eine Spur von Genugtuung, die ihn durchzog.
Dann spürte er ein mulmiges Gefühl in seinem Magen aufkommen. Es fühlte sich wie Panik an, in die er sich selbst hineinsteigerte. Er umfasste die Pistole noch fester und presste seine Lippen zusammen. Sein ganzer Körper schien sich zu verkrampfen.
Dann dachte er an Ben und daran, dass dieser vielleicht sterben würde. Der große Schmerz, der sich dadurch in ihm ausbreitete, nahm unterdessen ein unerträgliches Ausmaß an. Ben war bewusstlos und schwer verletzt. Dafür sollte Diego büßen.
Alex’ Hände fühlten sich taub an. Er spürte nichts als den kalten Schnee unter seinen Beinen. Er brauchte noch ein paar Sekunden, um all seinen Mut zusammenzunehmen. Er zitterte heftig. Sein Kopf war leer. Jetzt konnte er abdrücken. Erneut spannte er seinen Zeigefinger an und wurde dabei immer wieder von einem neuen Schwall Mut durchfahren, der jedoch jedes Mal kurz vor dem Höhepunkt wieder unbedeutend zurücksickerte. Als er dann endlich abdrücken wollte, nahm er plötzlich ein flackerndes Licht im Augenwinkel wahr, verbunden mit der schrillen Sirene eines Polizeiwagens.
In Alex kroch ein Anflug von Panik empor. Doch jegliches Adrenalin in seinem Körper schien bereits aufgebraucht worden zu sein. Seine Arme fühlten sich schwer an.
Vollkommen regungslos starrte er auf die Waffe in seinen Händen. Er wusste, wie die Szene auf die nahenden Polizisten wirken musste. Dennoch war er zu keiner Bewegung fähig. Erst als er plötzlich hallende, sich entfernende Schritte vernahm, blickte er wieder auf und konnte sehen, wie Diego in Richtung seines Autos rannte. Alex wollte ihn aufhalten, ihm etwas hinterherrufen, verharrte jedoch weiterhin in seiner Schockstarre. Er fühlte sich wie ein Geist, der das Geschehene um sich herum zwar wahrnahm, es aber in keinster Weise mehr beeinflussen konnte. Erst nach einigen, weiteren Sekunden nahm er die Pistole endlich herunter und kroch zu Ben zurück. Er kniete sich so dicht neben ihn, dass sich der vom Blut durchtränkte Schnee in seine Hose sog. Dadurch fühlte er sich nur umso erbärmlicher. Die Pistole hielt er noch immer in seiner rechten Hand.
Irritiert öffnete er seine Augen und sah, wie das blinkende Blaulicht gegen die grauen Häuserfassaden geworfen wurde. Etwas entfernt blieb das Polizeiauto stehen. Gleich darauf folgte ein Krankenwagen.
Die Türen des Polizeiwagens sprangen auf. Hinaus stürmten zwei bewaffnete Beamte.
„Lassen Sie die Waffe fallen!“, rief einer von ihnen und leuchtete dabei mit einer Taschenlampe in seine Richtung. Das grelle Licht ließ ihn blinzeln.
Die dunkle, männliche Stimme des Polizisten hallte dumpf in seinem Kopf wider.
„Lassen Sie sofort die Waffe fallen!“, wiederholte sich der Beamte erneut.
Alex starrte ausdruckslos geradeaus. Er fühlte sich der realen Welt fremder als je zuvor. Alles um ihn herum wirkte verschwommen und unwichtig.
Er senkte seinen Kopf und blickte auf Ben.
Bitte halt’ durch!, dachte er, brachte dabei aber keinen Laut über die Lippen.
Erneut begann er zu weinen. Er schluchzte so laut, dass es in der still gewordenen Straße schallte. Er fühlte sich miserabel und wusste, dass es für die Polizisten so aussehen musste, als ob er gewesen war, der auf Ben geschossen hatte. Doch so ähnlich fühlte er sich auch. Er fühlte sich schuldig. Hätte er sich nicht auf Diego gestürzt, hätte sich auch kein Schuss
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