Wintermond (German Edition)
mehr zu beeindrucken versuchte, indem er übertriebenes Engagement an den Tag legte. Doch auch wenn er an diesem Morgen wenig Lust dazu hatte, musste er mit Ben reden, um ihm deutlich zu machen, dass er Jo nichts von den gelöschten Daten erzählen sollte. In hastigen Schritten ging er die helle Marmortreppe hinunter. Im unteren Flur angekommen horchte er erst einmal. Er konnte nirgends Stimmen hören, woraus er schloss, dass Ben und sein Vater sich entweder in getrennten Räumen aufhielten oder aber in demselben derart in die Arbeit vertieft waren, dass sie nicht miteinander redeten. Alex atmete einmal tief durch, bevor er sich umzusehen begann. Erst warf er einen Blick in die Küche, fand dort allerdings niemanden vor. Dann spähte er in das Wohn- und Esszimmer, aber auch dort war neben einem auf dem Tisch stehenden benutzten Teller nichts zu sehen. Alex wandte sich um und schritt auf den Wintergarten zu. Während er seine Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, durchfuhr ihn ein merkwürdiges Gefühl, was beinahe einem Déjà-Vu ähnelte und ihn wieder an den absurden Traum erinnerte. Denn in diesem hatte er sich ebenfalls im Wintergarten befunden und war aufgrund einer Belanglosigkeit zu einem Mörder geworden. Alex schluckte, bevor er die Türklinke schließlich hinunter drückte und den gläsernen Raum betrat. Auf den Dachfenstern hatte sich reichlich Schnee gesammelt und ließ den Wintergarten damit dunkler als üblich wirken. Alex blickte sich um und fand Ben kurz darauf auf der schmalen Couch vor - halb liegend, halb sitzend. Sein Laptop surrte noch immer. Alex brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass Ben, der genau wie er selbst noch die Kleidung vom Vortag trug, in der Nacht über seinem Laptop eingeschlafen sein musste. Ohne, dass er es beeinflussen konnte, stahl sich für den Bruchteil einer Sekunde ein schmunzelndes Lächeln auf Alex’ Lippen.
Vermutlich hatte Ben all das wieder aufgearbeitet, was Alex ihm in der Nacht zerstört hatte. Diese Verbissenheit des Dunkelhaarigen war unverkennbar. Alex trat einen Schritt näher auf die Couch zu und beobachtete Ben eine ganze Weile. Dessen Mund war leicht geöffnet, sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig und seine Haare standen zu allen Seiten ab. Alex konnte fühlen, wie ein weiterer Schwall von Erleichterung durch seinen Körper zog. Verantwortlich dafür war die erneute Erkenntnis, dass sein schreckliches Erlebnis lediglich ein Traum gewesen war und dass er Ben nun lebend vorfand. Wieder musste er schmunzeln, als er sich an die realen Bestandteile der Nacht zurück erinnerte. Daran, wie er geduscht und plötzlich ein merkwürdiges Geräusch vernommen hatte. Kurz darauf hatte er einen Schatten durch den Wintergarten huschen sehen und angestrengt etwas zu erkennen versucht und schließlich gesehen, dass Ben es war, der sich im Dunkeln des Wintergartens verborgen und ihn offenbar beim Duschen zugesehen hatte. Ja, wenn er daran zurück dachte, widerte es ihn an. Es verschaffte ihm sogar einen kalten Schauer von Ekel, wenn er sich vorstellte, dass ein Schwuler ihn beobachtet hatte. Doch heute, an diesem neuen Morgen und nach diesem schrecklichen Traum, legte sich viel mehr eine Spur von Amüsement über diesen Ekel und ließ ihn innerlich lachen. Ben war jemand, den er vom ersten Moment nicht hatte leiden können. Einer von vielen anderen Praktikanten seines Vaters, die Jo förmlich nach der Nase tanzten. Doch noch nie hatte sein Vater jemanden so sehr umsorgt wie Ben und deshalb war es noch nie so gewesen, dass Alex für jemanden eine derart große Abneigung entwickelt hatte. Aber neben dieser Feindseligkeit verspürte er noch etwas anderes. Etwas, das ihn reizte, den Dunkelhaarigen zu triezen. Etwas, was sich für ihn wie ein böses Spiel anfühlte, an dem er - warum auch immer - eine Menge Spaß hatte. Deshalb war Ben in kürzester Zeit zu jemandem geworden, den er nicht mehr missen wollte. Die Boshaftigkeit, die Alex an ihm auslassen konnte und die zu diesem ganzen Spiel, dessen Regeln er nicht einmal selbst verstand, gehörte, war zu etwas geworden, auf das er in seinem Tagesgeschehen nicht mehr verzichten wollte. Ferner kam es Alex das ein oder andere Mal fast so vor, als ob Ben sich ebenso an diesem unausgesprochenen Spiel beteiligte. So hatten sie auf eine ungewöhnliche Art und Weise eine Beziehung zueinander aufgebaut, dessen Hauptbestandteil Sticheleien und Streitigkeiten waren.
Alex bemerkte erst nach einer ganzen Weile, wie
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