Wintermond
ein paar von den Fliesen runterschlägst, damit wir wissen, was uns noch alles erwartet. Wahrscheinlich verbergen sich dahinter noch ein, zwei weitere Schichten. Mann, ich freue mich jetzt schon auf den Kostenvoranschlag für die Renovierung. Das wird ein Fest!«
Mit einem Grinsen blickte David seinem Chef hinterher. Sobald Halberland außer Sichtweite war, griff er erneut nach dem Teppich und rief den Wolf. Ein kaum sichtbarer Schatten verdichtete sich zwischen seinen Fingern, einen Augenblick später hatte er mit einem einzigen Ruck eine beachtliche Ecke Boden freigelegt. Bei diesem Anblick grummelte der Wolf zufrieden, ganz im Einklang mit seinem Herrn.Vorsichtig hobelte David weitere Lackspäne ab, bis genügend Farbe und die Maserung des Holzes zu erkennen war. Eiche - Halberland hatte Recht gehabt, der Mann verstand sein Geschäft.
Zufrieden ging er in das Badezimmer, um die Fliesen in Augenschein zu nehmen. Diese leuchteten in einem künstlichen Braun, einige von ihnen zeigten Scherenschnitte von Palmen und Meer. David verzog ungläubig das Gesicht. Diese Fliesen mochten vor einigen Jahrzehnten einmal modern gewesen sein, aber nun hatten sie sogar ihre Wiederauferstehung dank der Retrowelle überlebt. Diese Scheußlichkeit würde ich glatt auch ohne Bezahlung abreißen, dachte er und schüttelte sich.
Ohne Voranmeldung änderte der Wolf Davids Wahrnehmung, und das Badezimmer schimmerte in verschiedenen Farben und Formen, als sähe er durch ein Prisma: Eine Vielzahl unterschiedlichster Fährten überlagerten einander. Allerdings erzählten sie von einem normalen Alltag und waren überdies alt, wie der Wolf leicht enttäuscht feststellte. Hier lebten schon lange keine Menschen mehr.
Mit einem Schnaufen drängte David die Wolfssicht zurück - dieser Hang des Wolfes zur Selbstständigkeit war neu, und er wusste noch nicht, was er davon halten sollte. Allerdings musste er sich eingestehen, dass das Zusammenleben mit dem erstarkten Dämon sich unerwartet gut anfühlte. Als wäre ihnen beiden eine Souveränität geschenkt worden, die es ihnen leichter machte, beisammen zu sein. Als lebten sie seit dem Ritual in einem größeren Einklang miteinander. Eigentlich ein Widerspruch in sich:Wie konnte ein höheres Maß an Freiheit dazu führen, dass man sich einander näher fühlte? Wie auch immer, es fiel David jedenfalls erstaunlich leicht, mit den Menschen zurechtzukommen, nachdem er zuerst voller Panik befürchtet hatte, jeden Augenblick aufzufliegen. Er glaubte sogar, dass Halberland ihm gut aufs Fell gucken konnte.
David ging zum Fenster, und es brauchte einiges an Geschick, um das verzogene Holzfenster zu öffnen. Von hier blickte man in den ummauerten Garten, ein Kleinod inmitten der endlosen Stadt. Der Regen hatte die von altem Laub bedeckten Beete zum Schimmern gebracht. Im Sommer nahm der alte, dicht bei der Mauer gepflanzte Baum bestimmt die Hälfte des Gartens mit seiner Laubkrone in Beschlag, doch nun ragten seine kahlen Äste wie ein hochkomplexes Kunstwerk aus unzähligen Strichen in die Luft empor.
Während er in den Garten hinabsah, dessen Erdreich er bis in den ersten Stock riechen konnte, bemerkte David, wie sich ein ungewohntes Gefühl ausbreitete. Es dauerte einen Moment, bis er es benennen konnte: Zufriedenheit. Allein die Aussicht auf diesen Job machte ihn glücklicher, als er es in den vergangenen Jahren je gewesen war. Zwar war er nichts weiter als der Leiharbeiter einer Zeitarbeitsfirma, aber Halberland beschäftigte ihn nun schon seit einer Woche und war zufrieden mit ihm. Halberlands kleines Unternehmen hatte sich auf Renovierungsarbeiten verlegt - »alles aus einer Hand« -, und in diesem wohlhabenden Wohnviertel mit seinen altehrwürdigen Bauten gab es mehr als genug zu tun. Dabei hatte David kaum zu hoffen gewagt, in Maggies Viertel eine Arbeit zu finden.
Das Wunderbarste war seine Beziehung zu Meta - David blinzelte bei dem Wort Beziehung unwillkürlich, aber dazu war ihre Affäre mittlerweile unleugbar gediehen. Dennoch sorgte auch etwas anderes für dieses warme Gefühl von Zufriedenheit. Früher hatte er all seine Energie darauf verwenden müssen, seinen übermütigen Wolf an die Leine zu legen. Doch seit dem Ritual war die Anwesenheit des Wolfsdämons auf eine unerklärliche Art leichter geworden.Allein, dass er David nicht unentwegt drängte, zum Rudel zurückzukehren, grenzte an ein Wunder. Obwohl der Wandel verwirrend und schmerzhaft gewesen war, war der Dämon nicht zu
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