Wintermond
Mann: ausgezehrt und halb aufgefressen von einem inneren Feuer. Das einzig Strahlende an dieser farblosen Gestalt waren die blauen Augen, ausgerechnet jener Part, den Convinius so sehr hasste. Obwohl er vom Körperbau her eher zierlich veranlagt war und seine unnatürlich anmutende Schlankheit darauf hätte schließen lassen können, dass er dem schon als Jugendlichen hünenhaften David körperlich nicht gewachsen war, wusste David es aus leidiger Erfahrung besser: Convinius’ selbstzerstörerische Verachtung für das, was er war und nicht ändern konnte, verwandelte ihn in einen unbezwingbaren Gegner.
Es war eine von Convinius’ Lieblingsübungen gewesen, seinem Schützling einzubläuen, welche Art von Dämon er in sich beherbergte: keinen harmlosen Weggefährten auf vier Pfoten, wie David seit seiner Kindheit geglaubt hatte, sondern einen eigensüchtigen Besatzer, dessen Freundlichkeit nur als Fassade diente. Dahinter verberge sich nichts anderes als ein Schmarotzer, der in die Menschen eindrang und ihnen seinen Stempel aufdrückte.
»Warum sonst«, hatte Convinius dem widerspenstigen Jungen erklärt, »hat dich deine Mutter wohl freiwillig in meine Obhut gegeben? Weil sie gespürt hat, dass du nicht ihr Kind bist, dass du jemand anderem gehörst.«
Diese Rede verletzte David unendlich, da sie einen Verdacht aufgriff, der ihn durch seine ganze Kindheit begleitet hatte: ein Kuckucksei im Schoß seiner Familie zu sein, das seiner Mutter Rebekka und seinen Geschwistern die Luft zum Atmen stahl. Trotzdem hatte er den Mann, der nur aus Sehnen und Knochen zu bestehen schien, trotzig angefunkelt. »Rebekka hat zugestimmt, dass ich mit dir gehe, weil ich es so wollte. Ich kann jederzeit zu meiner Familie zurückkehren.«
»Ach ja?« Auf Convinius’ verhärmtem Gesicht deutete sich ein trauriges Lächeln an. »Vermutlich würde deine Mutter dir sogar die Tür öffnen, wenn du anklopfen würdest. Doch um welchen Preis? Dass ihr der Wolf eines Tages die Kehle zerfetzt? Du bist beschmutzt von diesem Dämon, der in dir haust, und darüber hinaus eine Gefahr, weil du unwillig bist, die Bestie zu beherrschen. Jeder halbwegs vernünftige Mensch bemerkt, dass von dir nichts Gutes ausgeht, und wird sich deshalb zurückziehen. Diese Erfahrung wirst du doch sicherlich auch schon gemacht haben, nicht wahr, David?«
»Dein Wolf ist vielleicht böse, aber meiner ist es nicht!« Obwohl der Junge dagegen ankämpfte, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er verspürte den Drang, einfach nach Convinius zu schlagen, als Genugtuung für den Kummer, den er ihm mit seinen Worten bescherte. Aber der Wolf hatte beruhigend gebrummt, ein wohlvertrauterTrost, so dass der Junge sich schließlich entspannte. »Ich werde älter und klüger, und wenn ich meinen Wolf beherrschen kann, dann gehe ich nach Hause.«
»Wenn dir das eines Tages wirklich gelingen sollte, freue ich mich für dich. Aber ich befürchte, dass dir das nie gelingen wird, solange du den Wolf als Verbündeten und nicht als deinen Gegner ansiehst, den es bis aufs Blut zu bekämpfen gilt. Der Dämon täuscht uns, indem er vorgibt, nicht mehr als ein Wolf zu sein, ein berechenbares Wesen. In Wirklichkeit dürstet ihn nach Blut und Macht. Solange du ihn nicht kontrollierst, kannst du nicht unter Menschen leben.«
Dies war die Kernlektion gewesen, die Convinius ihm hatte beibringen wollen. Dabei hatte er nicht immer mit Worten gekämpft, wie die vernarbten Striemen auf Davids Rücken verrieten. Je nach Verfassung war der Junge in seinen Augen mal ein schwaches Opfer, das den Verführungskünsten des Dämons ausgeliefert war, mal ein Verräter, ein williger Lakai, der sich hemmungslos den Künsten des Wolfes hingab, gedankenlos über die Folgen, die diese Verbrüderung haben würde.
Ein lautes Poltern aus der Etage über ihm, gefolgt von einer lautstark vorgetragenen Verwünschung, riss David aus seinen unglücklichen Erinnerungen. Er stand mitten in einem leeren Raum, dessen vergilbte Tapeten noch verrieten, wo einmal die Möbel gestanden hatten. Der Geruch von Laub stieg ihm erneut in die Nase, und es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass eine der Fensterscheiben einen feinen Sprung aufwies.
Trotzdem konnte David sich nicht dazu aufraffen, den Schaden genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie jedes Mal, wenn er an Convinius dachte, mischte sich die Wut über den erlittenen Schmerz und die Demütigungen mit Trauer. Früher hatte David sich für diese Regung selbst verachtet, aber
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