Wintermond
einer unüberwindbaren Macht herangewachsen, die ihn unter seine Herrschaft zwang. Oftmals verhielt sich der Wolf so ruhig, dass David seine Existenz fast vergaß. Dabei hatte er immer geglaubt, dass der erstarkte Dämon zwangsläufig versuchen würde, seine ureigenen Interessen durchzusetzen. Genauer gesagt, hatte Convinius das behauptet, und das Verhalten von Hagen samt seinen blutrünstigen Getreuen hatte den Verdacht untermauert.
Vielleicht halte ich mich ja deswegen so gern in Maggies Nähe auf, dachte David, während seine Finger die bröckelnde Verfugung der Fensterrahmen untersuchten. Diese Anführerin war anders … machtvoll, jedoch nicht verdorben. Er hatte sich schon so manches Mal gefragt, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn Maggie ihn nach Convinius’ Tod gefunden hätte.Auch ihr Wolf war stark, aber sie missbrauchte ihn nicht dazu, die Schwächeren zu unterwerfen und mit Blut an sich zu ketten. Allein der Gedanke an die dreckigen Geschäfte, für deren Abwicklung Hagen das Rudel missbrauchte, ließ David unbewusst die Hände zu Fäusten ballen.
In den letzten Jahren war das Rudel immer tiefer in ein Netz aus Gewalt und Verbrechen verstrickt worden, damit Hagen seine Blutopfer in die Fänge bekam. Zwar war Sascha auch nicht gerade als Menschenfreund bekannt, aber dass er seine Leute in ebensolche Machenschaften verwickelte, konnte David sich einfach nicht vorstellen. Ihm schien es eher so, als zögen die Toten, die Hagen und seine erste Garde in widerwärtiger Regelmäßigkeit forderten, den ganzen Dreck der Stadt an.
»Hey, David! Wie sieht’s unten bei dir aus?« Obwohl Halberland schnaufte, als würde er gleich einen Herzinfarkt erleiden, tönte in seiner Stimme auch seine Begeisterung für die vor ihnen liegende Aufgabe durch: So schön die Fassade des Hauses anmutete, im Inneren war es eine Ruine.Aber es wartete bereits ein wohlhabendes junges Paar darauf, jede Menge Geld hineinzustecken, damit sie Freunde und Familie mit einer prächtig renovierten Stadtvilla beeindrucken konnten.
»Alles raus, würde ich sagen. Und damit meine ich auch die verschimmelte Wand zwischen Bad und dem Nachbarraum. Zwei so kleine Räume, das sieht doch nach nichts aus. Daraus könnte man ein richtiges Luxusbadezimmer machen.« Die Vorstellung, Zeuge zu werden, wie dieses Haus Zimmer für Zimmer wieder auferstand, gefiel David ausgesprochen gut.
»Ah, da kommt wohl das Fräulein Innenarchitektin in unserem jungen Freund zum Vorschein.« Halberland lachte, bis ihn ein Hustenanfall überkam. Dann japste er erst noch ein paarmal, bevor er weitersprach. »Sentker und ich bleiben erstmal hier oben. Dieser schmiedeeiserne Balkon sieht aus, als würde er abstürzen, wenn man ihn bloß schief anguckt. Ist aber ein echter Leckerbissen, den sollte man auf jeden Fall erhalten. Die erste Etage gehört also dir. Wenn die neuen Besitzer in einer Stunde auftauchen, sollten wir denen eine erste Bestandsaufnahme geben. Nur keine eigenen Vorschläge, bitte. So was können Schickimickis nicht ausstehen - Tipps hören die sich nur von Leuten an, für deren Meinung sie viel Geld bezahlt haben.Wir reden über veraltete Elektroleitungen und morsche Treppenstufen, verstanden?«
David zuckte gleichmütig mit der Schulter, aber Halberland schien auch keine Antwort zu erwarten. Mehr zum Spaß setzte er seinen Schraubenzieher bei einer schief sitzenden Steckdose an, die daraufhin gleich aus der Fassung fiel. »Über die Elektroleitungen gibt es auch wirklich mehr als genug zu reden«, brummte er.
Mit einem Mal breitete sich auf Davids Haut jenes seltsame Prickeln aus, das ihn sonst nur überkam, wenn er den Wolf rief. Mit einem ungläubigen Staunen beobachtete er, wie sein Schatten die verschwommene Form eines Wolfes annahm und über die braunen Wandfliesen glitt. Anders als im Kampf mit Mathol nahm der Wolf keine festen Konturen an, sondern verhielt sich, wie man es von einem Schatten erwartete - einmal davon abgesehen, dass er nicht länger die Silhouette seines Herrn aufwies.
»Was zum …«, stieß David aus, um sogleich innezuhalten, als ihm bewusst wurde, dass er laut gesprochen hatte. Doch das Geschehen brachte ihn tatsächlich aus der Fassung. Zwar hatte er seinen Wolf schon oft von sich getrennt - Convinius hatte ihn diese Kunst gelehrt, auf eine sehr schmerzhafte Art und Weise -, aber dieser Bruch war immer von ihm ausgegangen. Nun war es der Wolf, der aus ihm hervorbrach und die Verbindung zwischen ihnen beiden so weit
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