Wintermond
ausdehnte, dass sie jeden Augenblick zu reißen drohte.
Was, zum Teufel, soll das?, fragte David den Wolf über jenen mentalen Faden, der sie miteinander verband.Auch wenn seine Umrisse im diesigen Nachmittagslicht leicht zerlaufen wirkten, sah es so aus, als wedle der Wolf verlegen mit der Rute. Etwas bis dato Unbekanntes formte sich in Davids Bewusstsein: Der Wolf teilte sich ihm klarer als je zuvor mit. Nur ein Spaziergang, bin gleich wieder da …
»Lass dich aber nicht erwischen«, sagte David und kam sich sofort wie ein Idiot vor. Der Schatten flackerte, dann löste er sich wie ein Nebelhauch auf und verschwand. Zurück blieb ein junger Mann, der hoffte, dass der Balkon Halberland & Co. noch eine Weile beschäftigte, denn ohne seinen Schatten wollte er ihnen nur ungern unter die Augen treten. Es hatte einen guten Grund, warum die meisten Rudelmitglieder sich nicht von ihrem Schatten trennen konnten: Ohne die Macht des Wolfsdämons ließ sich die Position im Rudel nicht lange aufrechterhalten. Man war für die Zeit, in der der Schatten fort war, ausgeliefert. Man war nur ein Mensch. Und das fühlte sich selbst für David seltsam an.
Während er die übrigen Räume untersuchte, die ebenfalls in einem desolaten Zustand waren, wartete David darauf, dass jenes Echo anschwoll, das von der leeren Stelle des Wolfes herrührte und sich innerhalb kürzester Zeit zu einem ohrenbetäubenden Lärm hochschaukeln konnte, bis man glaubte, bloß eine Hülle zu sein, die gleich zerbersten würde. Doch nichts dergleichen geschah. Er spürte zwar das Fehlen des Wolfes, aber auch eine Verbindung, wie ein kaum wahrnehmbares Summen, ein Faden, den er noch zu berühren lernen musste. Das war neu.
Was auch immer das Ritual bewirkt hatte, es war so ganz anders als alles, was er erwartet hatte.Wenn er das in der Zeit geahnt hätte, in der ihm das Leben in Hagens Stadtpalais mit jedem Tag abstoßender erschienen war, hätte er sich vielleicht nicht so gegen die Stärkung des Dämons gewehrt. Aber er hatte einfach zu viele starke Wölfe kennengelernt, die ihm pervertiert vorgekommen waren. Convinius etwa, der sich selbst fast noch mehr hasste als seinen Wolf … Hagen und seine heruntergekommene Meute … und er selbst mittendrin, den Bedürfnissen seines Dämons ausgeliefert, der nicht ohne die Nähe zu anderen Wölfen existieren konnte.
Dabei hatte die Abwesenheit eines Rudels David selbst nach Convinius’ Tod verhältnismäßig wenig ausgemacht, während es sich für den Wolf angefühlt hatte, als hätte man ihn in einer Kapsel eingesperrt und diese dann im Meer versenkt. Von Moment zu Moment war die Kälte, die der Dämon in seiner Isolation erlitt, unerträglicher geworden. Durch seine Verbindung mit dem Wolf wusste David nur allzu gut, wie es sich anfühlte, wenn jeder Gedanke, jede Gemütsregung erstarrte, bis alles zu einer Salzwüste geronnen war, in der nur noch das eigene leidende Winseln erklang.
Doch der Gedanke war müßig: Nach dem Ritual hatte er das Rudelleben hinter sich gelassen, und offensichtlich begnügte der Dämon sich jetzt damit, ohne engeren Kontakt zu anderen seiner Art zu leben.
Was mein Wolf wohl gerade treibt?, dachte David und stellte sich vor, wie der Schatten sich um Maggies Beine schlängelte, auf der Suche nach Nähe zu seinesgleichen. Nun, solange seine Abwesenheit ihn nicht wie früher in den Wahnsinn trieb, sollte es David recht sein. Je weniger Wolf in seinem Inneren hauste, umso besser.Trotzdem blickte er missmutig an sich hinab, schalt sich jedoch sofort, weil ihm das Fehlen seines Schattens nun wirklich nicht zu schaffen machen sollte.
Unwillkürlich dachte David daran zurück, wie es sich vor Mathols Tod angefühlt hatte, sich von seinem Schatten loszureißen. Während er zurückgelassene Möbel über den verschlissenen Teppichboden schob, wurde die Erinnerung an die damals erzwungenen Trennungen so lebendig, als geschähen sie genau in diesem Augenblick. Vertraut klang ihm Convinius’ stets gereizte Stimme im Ohr, die er nun schon seit einigen Jahren nicht mehr gehört hatte: »Wie kann es dich schmerzen, von diesem Eindringling getrennt zu sein? Statt winselnd in der Ecke zu liegen, solltest du deine Freiheit genießen, so kurz, wie sie währt.«
Mit ungläubiger Miene beugte sich der Mann zu einem David herunter, dessen Züge gerade erst die weichen Spuren der Kindheit abgelegt hatten. Obwohl Convinius vielleicht Mitte dreißig sein mochte, sah er in Davids Augen aus wie ein alter
Weitere Kostenlose Bücher