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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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inzwischen gestand er sie sich zu. Trotz allem, was Convinius ihm angetan hatte, war er ihm auch ein Lehrer gewesen. Ganz gleich, mit welch drastischen Mittel ihm der kühle, gebeugte Mann vor Augen geführt hatte, dass der Wolf eine Bestie sei - das Ende, das Convinius schließlich gefunden hatte, hatte er ihm nicht gewünscht.
    Convinius war das Opfer seiner eigenen Kunst geworden: der Fähigkeit, sich von seinem Schatten zu lösen. Nach all den Jahren, in denen er seinen Schatten mit aller Leidenschaft zu vernichten versucht hatte, war dieser Hass schließlich erwidert worden. Zurückgeblieben war nur ein zerfleischter Leichnam. Doch selbst im Tod hatten die auf wundersame Weise unverletzt gebliebenen Gesichtszüge keinen Frieden ausgestrahlt, obwohl der Schatten endlich von ihnen gewichen war. Die nun blassgrauen Augen hatten ins Leere gestarrt, als könnten sie die lebenslange Trauer auch im Tod nicht abstreifen. Ein verschwendetes Leben.
    Mit einem Schnaufen, das jeder Dampflok Ehre gemacht hätte, kam Halberland ins Zimmer gestampft. David zuckte schuldbewusst zusammen und trat rasch einen Schritt aus dem einfallenden Licht heraus. Im Dunkeln würde die Abwesenheit seines Schattens nicht weiter auffallen.
    »Zwei Anrufe«, keuchte Halberland, der weder Davids erschrockenes Gesicht noch seinen fehlenden Schatten bemerkt hatte. »Erst die neuen Besitzer: Er steckt irgendwo im Stau fest, und sie wagt es bei Regen nicht, hier allein aufzutauchen.  Der Besichtigungstermin ist also auf morgen verschoben. Ist mir ganz recht, schließlich dämmert es schon. Der zweite Anruf kam von deiner Freundin. Ich soll dir ausrichten, dass etwas für dich in der Galerie abgegeben worden ist. Du sollst vorbeikommen.«
    Davids Züge erhellten sich augenblicklich. Der Gedanke daran, gleich vor Meta zu stehen, verdrängte sämtliche schmerzlichen Erinnerungen mit einem Schlag. »Kann ich mich dann jetzt aus dem Staub machen, wo doch sonst nichts weiter anliegt?«
    »Nur zu«, sagte Halberland. »Schließlich sieht man hier ja gleich nix mehr vor lauter Dunkelheit, und vom Strom sollten wir besser die Finger lassen. Über Sentkers Kopf ist eine dieser alten Glühlampen explodiert. Sag mal, nimmt dir die Zeitarbeitsfirma so viel von deinem Lohn weg, dass du dir kein eigenes Handy leisten kannst?«
    David zog angewidert die Nase kraus. »Ich kann die Dinger einfach nicht ausstehen.«
    »Genau wie’s Autofahren, ja? Also nicht nur Innenarchitektin, sondern auch noch ein Öko.«
    »Ja, so was in der Art«, sagte David und grinste seinen übergewichtigen Chef an. Sein neues Leben gefiel ihm wirklich ausgesprochen gut.
     

Kapitel 22
Das Versprechen
    Eigentlich hätte Rahel schon längst Feierabend machen können, nachdem sie das Tagesgeschäft abgewickelt hatte und es heute Abend noch eine wichtige Probe ihrer Laienschauspielgruppe gab. Doch sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, sich ihre Jacke zu schnappen und die Galerie durch den Lieferanteneingang zu verlassen.
    Nachdem dieser Junge, der Meta am Nachmittag einen Besuch abgestattet hatte, ihre letzten Zweifel hinsichtlich Davids Natur zerstreut hatte, war sie wie getrieben im Büro auf und ab gelaufen. Seit Meta ihr von diesem seltsamen Schemen erzählt hatte, der aus den Händen ihres geheimnisvollen Liebhabers hervorgetreten war, nahm sie sich stets aufs Neue vor, ihrer Freundin etwas über jene Menschen zu erzählen, deren Schatten ein Eigenleben führten. Aber dann hatte sie einen Grund nach dem anderen gefunden, warum es unsinnig war, Meta einzuweihen. Der wichtigste von ihnen bestand in der Tatsache, dass es sich nur um eine Vermutung handelte, ganz gleich, wie gut sie zum Rest der Geschichte passte. Immerhin war es dem Mann in dieser riesigen Stadt zweimal gelungen, ohne weitere Anhaltspunkte dieselbe Frau zu finden. Aber schließlich besteht das Leben aus den verrücktesten Zufällen, hatte Rahel sich erfolgreich beruhigt - bis heute.
    Bei dem Gedanken an die blauen Augen, in die sie am Nachmittag einen Blick geworfen hatte, spürte sie sogleich  einen Druck an ihrer Kehle, als hätte sie jemand mit festem Griff gepackt. Doch mehr zu schaffen machten ihr die Tränen, die unwillkürlich aufstiegen und die sie auf keinen Fall fließen lassen konnte. Hastig wischte sie sich mit dem Pulliärmel über die Lider, doch diese Berührung verschlimmerte alles nur, denn auch sie war eine allzu vertraute Geste aus ihrer Kindheit. Nicht weinen, es nicht an sich herankommen

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