Wintermond
Rahel mit dem Tablett zurückkehrte, verdrängte Meta rasch ihre Überlegungen. Wenn sie von der Sorge erzählte, dass David vielleicht in Gefahr schwebte, zöge Rahel sicherlich ihr Angebot, nach ihm zu suchen, zurück.Was gewiss auch dasVernünftigste wäre, denn wer konnte schon sagen, was sich hinter alldem verbarg. Nur interessierte sich Meta nicht länger für vernünftige Entscheidungen.
Gegen ihren schwachen Protest häufte Rahel Zucker in den Tee und goss Sahne nach, dann setzte sie sich mit einer Tasse in den Händen auf die gegenüberliegende Seite des Sofas und steckte ihre Füße zu Meta unter die Decke. Es brauchte ein paar Schlucke Tee, bis Rahel sich räusperte, und Meta gönnte ihr gern diese Zeit, auch wenn sie vor Aufregung kaum an sich halten konnte.
»Wie gesagt, mein Bruder Augusten kam ebenfalls mit dieser verräterischen Augenfarbe auf die Welt. Nicht, dass wir damals eine Ahnung gehabt hätten, was sich hinter diesem genetischen Wunderwerk verbarg. In unserer Familie gibt es eigentlich keine strahlend blauen Augen.« Rahel verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln. »Heute weiß ich, dass der Wolfsdämon von Geburt an mit einem Menschen verbunden ist. Niemand kann sagen, wann die Verschmelzung stattfindet, zu welchem Zeitpunkt der Dämon also auf den Menschen überspringt. Manche glauben sogar, dass Mensch und Wolf von Anfang an gemeinsam existieren, obwohl ich persönlich nichts davon halte: Während Augusten noch ein Kind war, war der Wolf längst ausgewachsen und mehr ein Beschützer als ein kindlicher Spielgefährte.Aber ich glaube auch nicht, dass man von dem Dämon besessen ist, schließlich zwingt er niemanden dazu, ernsthaftes Unheil anzurichten.«
»Von einem Dämon besessen? Ich kenne diese Worte nur im Zusammenhang mit Exorzismus«, hakte Meta unsicher nach. Sie hatte zwar Verständnis dafür, dass Rahel sich dem Thema so umständlich näherte, aber sie begriff nicht wirklich, worauf die Freundin hinauswollte.
Rahel strich sich das Lockenhaar aus der Stirn, die vor Anstrengung ganz zerfurcht war. »Genau das ist der springende Punkt: Man kann den Wolf nicht austreiben - wenn du dich mit der Geschichte befasst und weißt, wonach du suchst, wirst du schnell herausfinden, dass es immer wieder einmal versucht worden ist.Aber der Wolf ist ein Teil des Menschen, und die meisten von ihnen fühlen sich auch so stark mit ihm verbunden, dass sie kaum noch zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen des Wolfes unterscheiden können. Sie sind vermutlich die zufriedensten ihrer Art.«
»Was erwartet dieser Wolf denn überhaupt?«
»Einmal davon abgesehen, dass der Wolf die Sinneswahrnehmungen verändert und einem unnatürliche Kraft verleihen kann, eigentlich nicht viel: Er jagt gerne, aber die Lust zu lauern und zu hetzen hat nichts mit Mordlust zu tun. Wobei es natürlich trotzdem kein Spaß ist, von seinem eigenen Bruder durchs Haus gescheucht zu werden, wie ich dir verraten kann.« Rahel lachte leise, und es klang so traurig, dass Meta unvermeidlich wieder die Tränen in die Augen stiegen. Sie rutschte zur Freundin hinüber und umschloss sanft ihren Ellbogen mit der Hand.
»Du hast den Wolf gesehen: Er ist ein Schemen, bestenfalls eine Idee von einem Wolf«, fuhr Rahel nach einigem Räuspern fort. »Man könnte fast glauben, dass er diese Form angenommen hat, um der Fantasie der Menschen entgegenzukommen. Wir suchen doch in allem Unbekannten eine vertraute Form. Hier passt der Wolf am besten, weil er tatsächlich einige Eigenschaften dieses Tieres innehat. Der Dämon sehnt sich nach der Gesellschaft von seinesgleichen und will mit ihnen in einem Verbund leben. Darum sprechen die betroffenen Menschen von Rudeln und Revieren. Er braucht das Gefühl der Zugehörigkeit und ist doch immer einsam, weil er sich nicht mit den anderen Wölfen vereinen kann. Er trägt also den gleichen Widerspruch in sich, den wir Menschen nur allzu gut kennen: Auf der einen Seite das Ich, auf der anderen das Wir - ein ständiger Widerstreit, man ist ein Wandler zwischen den Welten. Vielleicht nistet sich der Dämon ja genau aus diesem Grund in Menschen ein. Die Wölfe rotten sich also zusammen, und innerhalb der Gruppe muss der Einzelne seinen Platz finden, sich entsprechend seines Naturells einordnen - unter Menschen spricht man bei einem solchenVerhalten von Hierarchiebewusstsein.Wer ist das Alphatier? Wer das schwächste Glied in der Kette?«
Rahel stockte, um ein leises Kichern hinter der hohlen
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