Wintermond
missbraucht. Augustens Anführerin nutzte sie zur Kontrolle.Wenn er dann doch einmal zu uns kam, wagte er es kaum, sich uns zu öffnen. Ich glaube nicht einmal, dass der Druck auf ihn so außergewöhnlich groß gewesen war - vermutlich erging es allen Rudelmitgliedern so. Aber mein Bruder litt unter der inneren Zerrissenheit. Meine Eltern und ich begriffen, dass wir ihn gehen lassen mussten, dass er die Spannung nicht aushielt.« Erneut glitt Rahels Blick ins Leere, und ihre Worte klangen so, als würde sie mit jemandem aus der Vergangenheit sprechen, sich ihm erklären. »Wenn wir uns ein paar Jahre zurückgehalten hätten, wäre Augusten vielleicht stark genug für ein Doppelleben gewesen, obwohl ich nicht wirklich daran glaube. Doch wir konnten nicht auf ihn verzichten. Wenn eine Familie durch ein Geheimnis zusammengeschweißt wird, dann stärkt das die Bindung, ganz gleich, was auch Schreckliches passieren mag. Wenn Augusten uns also wieder verließ, drängten wir ihn jedes Mal, rasch zurückzukehren. Bis er nicht mehr kam. Kein Abschiedswort, nur ein spurloses Verschwinden. Augusten hatte den Wandel zwischen den Welten nicht länger ertragen können.«
Obwohl Rahel es nicht aussprach, konnte Meta die Geschichte hinter den Worten heraushören: Sie hielt Augusten für tot, für immer verloren.Was auch geschehen sein mochte, der Dämon hatte einen hohen Preis für den Verrat eingefordert. Erneut fragte Meta sich, wie Augusten wohl ausgesehen haben mochte. Etwas an David - das spürte sie - hatte Rahel an ihren jüngeren Bruder erinnert und sie dazu verleitet, einem anderen Wolf noch einmal eine Chance zu geben, ganz gleich, wie gering die Hoffnung war.
»Vielleicht verstehst du jetzt, warum es so wichtig ist, dass du das Wesen des Wolfes wirklich begreifst«, fuhr Rahel fort, wobei ihr deutlich anzumerken war, dass sie dafür kaum noch die notwendige Kraft hatte. »Du bekommst nicht einfach David plus einen Wolf. Ein Teil von ihm ist mit etwas Größerem verbunden, dem du nicht angehörst.Wenn ihr beide das nicht akzeptiert, wird sich der Dämon gegen euch wenden. Glaub mir, er kann sich dem Rudel nicht entziehen.«
Als Meta nicht gleich antwortete, richtete Rahel sich auf und streckte die Hand nach ihr aus. Einen Moment lang befürchtete Meta, ihre Freundin könnte sie an den Schultern packen und eine Antwort aus ihr herausschütteln. Überfordert blinzelte sie sie an, aber Rahel legte ihr bloß die Hand auf den Oberarm und nickte ihr verständnisvoll zu.
Schließlich sagte Meta: »Als dieser Schattenwolf gestern Gestalt angenommen hatte, ist David einfach davon ausgegangen, dass ich ihn nicht akzeptieren könnte. Er hat mir nicht einmal die Chance gegeben.«
Die Erkenntnis schmerzte so sehr, dass Meta befürchtete, abermals in Tränen auszubrechen.Aber war Davids Schlussfolgerung wirklich so unangebracht gewesen? Welche Frau hätte das schon ertragen können - Liebe hin oder her? Was sagt es nur über mich aus, dass ich nicht bloß die Existenz eines solchen Wolfsdämons zu akzeptieren bereit bin, sondern auch mit vollem Bewusstsein einen Menschen als Teil meines Lebens einlade, der diesen Dämon in sich trägt?, fragte sich Meta und fürchtete sich zugleich vor der Antwort.
»Der Schatten ist ein Wesen aus einer anderen Welt, und etwas in uns spürt das.« Rahel achtete nicht auf die Sorgenfalten, die sich auf Metas Stirn zeigten. »Ich brauche nur an ihn zu denken, dann läuft es mir schon kalt den Rücken herunter. Er ist wider die Natur, ein Eindringling, und das jagt uns Menschen mehr Furcht ein als alle Grausamkeiten, die er uns antun könnte. Für Augusten war es unerträglich, Angst und Ablehnung in den Augen seiner Familie zu entdecken.Trotzdem ist es weder unseren Eltern noch mir gelungen, den Schatten ohne Furcht zu ertragen«, sagte Rahel voller Wehmut.
»Wenn ich mit David zusammen bin, verspüre ich keine Angst - ganz gleich, ob ich seinen Wolf sehe oder nicht«, erwiderte Meta vorsichtig. »Dieser brutale Tillmann hat mir Angst eingejagt. Der Zorn, den Davids Wolf versprüht hat, hat mir Angst eingejagt, weil ich dachte, er könnte die Beherrschung verlieren und Tillmann die Kehle zerfetzen. Aber ich habe nicht einen Augenblick lang befürchtet, der Wolf könnte mir etwas antun. Schließlich habe ich ihn ja auch gerufen.«
»Was meinst du mit gerufen?«, unterbrach Rahel sie verwirrt.
Ertappt hob Meta die Hände. »Ich weiß nicht, wie. Ich habe ihn gerufen, und er ist gefolgt. Außerdem
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