Wintermond
schlau genug, ausreichend Abstand zu wahren, so dass Nathanel ihn nicht am Kragen packen und nach Hause schicken konnte. Es war ein gutes Zeichen, dass der Junge nach den letzten Wochen, in denen er sich wie ein waidwundes Tier in Ruths Haus verkrochen hatte, nun den Mut aufbrachte, ihnen zu folgen. Außerdem beruhigte es Nathanel, zu wissen, dass Jannik in der Nähe sein würde, wenn er seinen Plan zu Ende geführt hatte.
»Möchtest du hier draußen auf mich warten?«, fragte Nathanel den auf den Fersen wippenden Anton höflich, ehe er sich zum Gehen abwandte.
Anton zuckte mit den Schultern. »Würde Maggie das wollen? Schließlich hat sie mich doch mitgeschickt, damit ich ein Auge auf dich habe.«
»Tja, na dann«, gab Nathanel zurück und begann, die verschlossene Eingangstür zu untersuchen.
Zuvor hatten Maggie und ihre Garde Hagen an der Grenze begrüßt und in ihr Revier eingeladen, um zu überprüfen, wie man eine Übernahme vonseiten Saschas am besten abwehren konnte - zumindest hatte Rene Parlas den Angriff von Hagen auf diese diplomatische Art umschrieben. Anschließend war Nathanel sofort mit Hagens Einverständnis zu einem Rundgang ausgeschert. Fürsorglich hatte Maggie ihm den schweigsamen Anton an die Seite gestellt. Dabei wussten beide Parteien nur allzu gut, nach wem der ältere Mann eigentlich Ausschau hielt. Und Maggie wollte ihn dabei nicht allein lassen.
Die Tür des Hauses stellte sich als äußerst massiv und hervorragend verriegelt heraus, aber als Anton anbot, sie mit Gewalt zu öffnen, lehnte Nathanel ab und mühte sich stattdessen mit einem Klappmesser am Schloss ab.
»Er wird doch eh schon mitbekommen haben, dass wir hier sind«, erklärte Anton, als das Schloss immer noch keine Anzeichen machte, aufzuschnappen.
Widerwillig richtete Nathanel sich auf und strich sich das dunkelgraue Haar hinter die Ohren. »Ja, das hat er bestimmt, aber ich will ihn nicht unnötig reizen. Ein verwundeter Wolf ist besonders gefährlich. Ich habe keine Lust, diese verdammte Tür aus den Angeln zu heben und im nächsten Moment angefallen zu werden.«
Anton warf ihm einen Blick zu, als zweifle er daran, dass Nathanel so etwas passieren könnte. Schließlich besann er sich eines Besseren und erklärte: »Ich mache es mit der Schulter, dann knackt es nur mal kurz.«
Mit einem Schwanken wich Nathanel zur Seite, und einen Augenblick später traten sie in das nach Schimmel riechende Treppenhaus. Auch im Inneren strahlte das Haus jene beunruhigende Energie ab, die Nathanel angelockt hatte. Aber noch immer ließ sich keine eindeutige Fährte ausmachen. Er verharrte, dann erklärte er: »Wir fangen oben unter dem Dach an. Wenn ich mich nicht täusche, hat er sich eine hübsche Aussicht auf den Himmel gesucht. Der Vollmond hat so etwas Tröstliches.«
Als Nathanel die Tür aus dünnem Sperrholz am Ende der Stiege öffnete, stellte er fest, dass er mit seinerVermutung richtiggelegen hatte: David saß mit dem Rücken gegen einen Holzpfahl gelehnt, den Blick auf das Dachfenster gerichtet. Der weitläufige Speicher stand leer, der Boden war mit einer Staubspur überzogen, die sich an einigen Stellen dunkel verfärbte, wo Wasser durch die alten Schindeln eingedrungen war.
Nathanel trat ein - Anton zog es vor, im Türrahmen stehen zu bleiben -, und David sah nur kurz zu ihm auf, weder überrascht noch unangenehm berührt angesichts des unverhofften Besuchs. Nathanel hingegen fiel es außerordentlich schwer, seine Empfindungen in diesem Augenblick zu beherrschen: Dort hockte seine letzte Hoffnung, ganz in sich zusammengesunken, die Augen erschreckend leer.
Davids Augenbraue war aufgeplatzt, ein verkrustetes Zeugnis von seiner Auseinandersetzung mit Tillmann - Maggies Sohn hatte seine Erinnerung an Davids Demütigung quasi als Willkommensgeschenk für Hagen und die anderen Eindringlinge in den Köpfen seines Rudels hinterlassen. Auf Davids Wange zeigten sich dunkle Schlieren, dort, wo das Blut von der Wunde entlanggelaufen war und er es mit der Hand verwischt hatte. Offensichtlich hatte die Kraft nicht ausgereicht, um die Spuren gänzlich zu entfernen.Auch wenn Davids Geist für Nathanel unerreichbar war, so gelang es ihm dennoch, zu erkennen, dass der junge Mann direkt nach seinem Zusammenstoß mit Tillmann hierhergekommen war.
»Diese blonde Frau war wohl nicht sonderlich erfreut darüber, die Bekanntschaft deines Wolfes zu machen?« Nathanel kam nicht umhin, eine gewisse Enttäuschung in seiner Stimme
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