Wintermond
Macht, die einem der eigene Schatten verlieh. Wenn er es denn tat … Die meisten Wolfsdämonen waren schlicht nicht zu viel zu gebrauchen. Eigentlich besteht ein Großteil des Rudellebens im grimmigen Beisammensein, dachte David nüchtern. Er konnte diese erzwungene Nähe und das Hierarchiedenken nicht ausstehen, obgleich auch sein Wolf ihn in die Nähe des Rudels drängte. Davids Distanziertheit war eine Eigenart, die von einigen bewundert, von anderen mit Skepsis beäugt wurde. Der von Natur aus gesellige Jannik hatte dafür wenig Verständnis. Zwar reichte ihm in der Regel Davids Gegenwart, aber wenn dieser seine Wohnungstür hinter sich zuzog, lief Jannik mit seinem getreuen Burek geradewegs zum Palais oder zu einem der nahe gelegenen Verschläge.
Dabei hatte es anfangs danach ausgesehen, als gestehe der Anführer David keinen Rückzugsort zu. Allein seine Anfrage hatte damals einen Zornausbruch ausgelöst. Um sich abzukühlen, war Hagen derart aus dem Palais gestürmt, dass selbst der zu der Zeit noch vor Gesundheit strotzende Nathanel seine liebe Mühe hatte, Schritt zu halten. Dass ausgerechnet dieser Mann Hagen gefolgt war, hatte David Hoffnung gegeben, und er war den beiden Männern wie ein junger Hund hinterhergelaufen. Wenn Hagen seinen Wunsch nach einer eigenen Bleibe, mehrere Straßen vom Lager des Rudels entfernt, abgeschmettert hätte, hätte er nicht gewusst, wie es weitergehen sollte.
»Keine Ahnung, warum ich mich mit diesem Schwachsinn rumplagen muss.« Im Vorübergehen hatte Hagen sich einen Apfel von einem Obststand geschnappt und hineingebissen. »David steht doch in der Rangordnung ganz unten. Eigentlich sollte er vor Glückseligkeit vor mir auf dem Boden robben, weil ich ihn in meiner Nähe dulde. Ein Zimmer im Palais auszuschlagen … dieser kleine Scheißer.« Ohne innezuhalten, hatte Hagen sich umgedreht und die Apfelreste nach David geworfen.
»Du hast ihn in unser Rudel geholt, obwohl du seinen Lebensweg genau kennst«, hatte Nathanel dagegengehalten. »Der Junge ist vollkommen verblendet von Convinius’ Lehren. Es braucht vermutlich seine Zeit, bis er die Nähe des Rudels rund um die Uhr ertragen kann.«
Hagen war so abrupt stehen geblieben, dass David fast in ihn reingelaufen wäre. »Weil Convinius ein Schwachkopf war, soll ich seinem Welpen jetzt Narrenfreiheit gewähren, anstatt ihn hart ranzunehmen? Das ist ein Scheißrat von dir.«
Nathanel hatte bloß mit den Schultern gezuckt. »Du bist der Chef.Aber manchmal ist die lange Leine die wirkungsvollere. Du kannst ihn natürlich auch brechen, aber wem nutzt er dann noch?«
Einige Tage lang hatte Hagen gegrollt, dann hatte David sich mit seinen Habseligkeiten in einer eigenen Wohnung einquartieren dürfen. Als er sich mit ein paar wenigen Worten für Nathanels Fürsprache bedankte, hatte der bloß geschnaubt.
»Ich will Ruhe im Rudel, und solange du wie im Käfig hin und her läufst, ist das kaum möglich. Tu mir einen Gefallen und sieh zu, dass du mit deinem Wolf klarkommst. Nochmal wird Hagen sich nämlich nicht so leicht von seiner Fährte abbringen lassen.«
David hatte stumm genickt, obgleich er die lapidare Erklärung nicht geglaubt hatte. Und das hatte sich im Laufe der Zeit auch nicht geändert. Vielmehr hatte sich der Verdacht bestätigt, dass Nathanel ahnte, wie wenig Davids Fähigkeiten seinem niedrigen Rang entsprachen. Und das, obwohl David einen Großteil seiner Kraft darauf verwendete, seinen in die Welt drängenden Wolf unter Verschluss zu halten.
Erleichtert trat David aus dem Palais und atmete die Morgenluft ein, froh, die Verantwortung für die junge Frau abgegeben zu haben. Angelockt von der frischen Luft, zwängte sich der Wolf hervor, und mit einem Mal war alles um David herum ein einziges flirrendes Gemälde aus unzähligen Fährten. Und jede einzelne davon erzählte eine eigene Geschichte. Einige lockten, andere leuchteten glühend rot wie eine Warnung. Aus Klängen wurden Farben, aus Gerüchen eine ertastbare Spur, und die klaren Formen der Welt lösten sich wie ein zu Boden gefallenes Puzzle auf. Wie immer war David sich nicht sicher, ob er das heillose Durcheinander genießen oder sich dieser anderen Welt, die ihm der Dämon offenbarte, entziehen sollte.
Ausgerechnet sein Wolf war sehr lebhaft und ließ keine Gelegenheit verstreichen, seinen Hüter auf die ungenutzten Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Warum das so war, hatte David noch nie verstanden. Gerade er, der doch darauf gedrillt
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