Wintermord
wollte.
Tell verlor keine Zeit. »Hat die Nachbarin gesagt, wann sie weggefahren ist?«
»Das hab ich ganz vergessen zu fragen«, gab Karlberg zu und bekam zu seiner Erleichterung nur einen Seufzer zu hören.
Er arbeitete gern mit Tell zusammen, wirklich, aber in dieser Phase einer Ermittlung konnte er unerträglich sein. Bis er eine deutliche Linie fand, an der er sich orientieren konnte, einen Personenkreis, den er untersuchen konnte, ein Motiv, einen Verdächtigen.
»Sie könnte geflohen sein«, schlug Tell vor. »Hat den Typ und den ganzen Scheiß über gehabt.«
»Irgendjemand hatte ihn auf jeden Fall über«, stellte Karlberg mit einem schiefen Grinsen fest. »Vielleicht war sie es. Die ihn ermordet hat, meine ich. Wäre ja nicht das erste Mal, dass eine Frau ausflippt, nachdem ihr Mann sie zum x-ten Mal im besoffenen Kopf verprügelt hat.«
»Rein statistisch gesehen sind aber die prügelnden Ehemänner in der Mehrzahl, die ihre Frau umbringen«, murmelte Tell.
»Ja, aber in diesem Fall hat es den Mann erwischt. Und dass der Mörder ihn überfahren hat ... unterhalb der Gürtellinie über ihn drübergefahren ist ... Deutet das nicht auf ein sexuelles Motiv hin? Symbolisch, meine ich. Untreue oder so was. Er hat wild durch die Gegend gebumst, und irgendwann hat sie die Faxen dicke und fährt ihm über den Unterleib. Verschafft sich ein Alibi, indem sie eine Reise bucht und so tut, als wäre sie verreist.«
Karlberg wurde immer emsiger und sah, wie es auch in Tells Augen zu funkeln begann.
Tell glaubte zwar nicht an Karlbergs hastig vorgebrachte Theorie, aber er hatte jetzt sichtlich bessere Laune. »Wir müssen diese Frau wohl finden und mit ihr reden, bevor wir sie des Mordes verdächtigen.«
»Weil die Angehörigen immer als Erste verdächtig sind«, fügte Karlberg noch kühn hinzu, aber Tell wurde abgelenkt von zwei Autoscheinwerfern, die plötzlich in der Einfahrt aufleuchteten.
Nachdem das Auto mit ziemlich hoher Geschwindigkeit hereingefahren war, wurde es jetzt immer langsamer, bis es schließlich zehn Meter vor der Einfahrt zum Hof stehen blieb. Ein paar Minuten betrachteten sie das Auto, denn ihnen war quälend bewusst, was der Person am Steuer durch den Kopf gehen musste.
Es war eine Frau, die schließlich mit unendlich langsamen Bewegungen die Tür öffnete und ausstieg: Lise-Lott Edell. Später sollte sich Karlberg wieder darüber wundern, dass die Angehörigen eines Toten wissen, was passiert ist, lange bevor die Polizei es ihnen mitteilt. Auch Lise-Lott Edell wusste sofort, dass es hier nicht um Einbruch oder Sachbeschädigung ging.
Er schloss die Augen, als der erste Schrei von den Wänden des Schuppens widerhallte. Sie hatten eine lange Nacht vor sich.
8
1993
Ihr Zimmer in der Volkshochschule Stensjön war für sie, was für andere die erste eigene Wohnung ist. Im Grunde zog sie damals ja auch wirklich von zu Hause aus, obwohl sie auch früher immer wieder bei älteren Bekannten in der Stadt gewohnt hatte.
Jetzt verzichtete sie zum ersten Mal auf die Möglichkeit, eine Zwischenlandung bei ihrer Mutter einzulegen, wenn ihr alles zu schnell ging und das Leben grob mit ihr umsprang. Sie wollte etwas Neues, und die Mansarde mit dem kleinen Waschbecken neben dem Fenster war eben das.
Im Herbst und Winter roch es ein wenig nach feuchter Tapete, aber als sie zum ersten Mal vor der knarrenden Tür stand und aus dem schrägen Fenster nur den Himmel und ein paar Baumkronen sah, lag ein sommerlicher Duft von Staub und sonnenwarmem Holz über dem Parkettboden. Unter dem Waschbecken stand ein Schränkchen und an der gegenüberliegenden Wand ein klobiger Wäscheschrank mit jadegrüner Stoffbespannung hinter den teils verglasten Türen. Ansonsten gab es nur noch ein Bett, das sie mit der mitgebrachten Wäsche bezog. Der gehäkelte Überwurf hatte ein Sternenmuster.
Die erste Zeit in der Schule war schrecklich. Am Abend schlich sie sich wie ein Einbrecher in das kleine Telefonzimmer im Erdgeschoss und schloss leise die Tür hinter sich. Die Wände waren weinrot, und außer dem Telefon gab es hier nur noch ein altes Plüschsofa und einen kleinen Rattantisch mit einem steinernen Aschenbecher. My umklammerte den Hörer und überlegte, wen sie zu Hause anrufen könnte. Ihr fiel niemand ein.
Über allen Türpfosten im Haus hing ein Schild mit dem Zimmernamen. Die im Erdgeschoss leuchteten jedem ein: »Café«. »Großes Zimmer«. »Büro«. Ein Stockwerk darüber lagen die Unterrichtsräume,
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