Wintermord
der Neugier zugrunde, die sie zu dem Backsteinhaus geführt hatte, vor dem sie jetzt stand. Sie beneidete My, die ein Mensch so sehr geliebt hatte, dass er zum Mörder wurde, um sie zu rächen. Und sie beneidete auch den Mörder, der beschlossen hatte zu handeln, statt sich von seiner Wut zerfressen zu lassen.
Sie selbst wollte schreiben, um My zu rächen und einen Teil ihrer Schuld zu sühnen. Sie wollte eine Kriminalreportage mit Tiefgang verfassen.
Sie hatte keine Ahnung, wie man so etwas anfing, aber wenn sie My lebensecht schildern wollte, musste sie mit den Menschen sprechen, denen das Mädchen wichtig gewesen war. Den Anfang wollte sie bei der Familie machen, bei Mys Mutter. Dann würde sie Caroline suchen, Mys große Liebe.
John Svensson, der mit Hannas platonischem Freund bekannt war, hatte My in ihren Jugendjahren in Borås nur flüchtig gekannt. Erst als sie auf dieselbe Volkshochschule gingen, wurden sie Freunde, sogar enge Freunde. Jedenfalls »so eng, wie Caroline es eben gestattete«.
So hatte er sich in ihrem langen Gespräch über My und Caroline ausgedrückt. Ihre Liebe war etwas sehr Besonderes, hatte er gesagt.
Nun stand Seja vor der Wohnungstür der Graniths und atmete tief durch. Noch konnte sie es sich anders überlegen.
Doch sie klopfte an, und die Tür wurde fast sofort geöffnet. Die klapperdürre Frau musste sie schon durch den Türspion beobachtet haben.
Der Gedanke flößte Seja ein ungutes Gefühl ein.
Als sie ihr Anliegen vorbrachte, musste sie sich selbst eingestehen, dass sie reichlich wirr klang.
Sie sagte, sie wolle über My sprechen. Sie sei eher eine flüchtige Bekannte als eine enge Freundin gewesen, aber jetzt brauche sie Hilfe, um Klarheit in die Vergangenheit zu bringen. »Ich habe vor, etwas über My zu schreiben, über das, was ihr widerfahren ist. Ich kannte sie nämlich und meine, dass jemand das tun sollte.«
Die Frau rührte sich nicht vom Fleck. Vielleicht hatte sie jedem Wort, das über Sejas Lippen kam, aufmerksam gelauscht. Doch ihr Blick schien wie in weite Ferne gerichtet, als befände sie sich in einer anderen Welt.
»Ich hoffe, ich reiße keine alten Wunden auf mit meinem Besuch«, schloss Seja unsicher, als jede Reaktion ausblieb. »Darf ich vielleicht kurz reinkommen?«
Die Frau verschwand wortlos in der Wohnung, was wohl bedeuten sollte, dass Seja eintreten durfte.
Während sie allein im Flur stand, schnürte sie sich langsam die Stiefel auf. Sie sah sich um und kam zu dem Schluss, dass die Frau nicht allein hier wohnte. Auf dem Schuhregal standen zwei Paar Herrenschuhe, daneben mehrere Paar Damenschuhe in einer Größe, die dieser kleinen Frau unmöglich passen konnte. An der Garderobe hing ein roter Mantel, der auch einer großen Frau wie Seja bis zu den Knöcheln reichen würde.
Es roch nach Rauch und etwas, was am ehesten an einen Strauß verblühter Blumen erinnerte: Fäulnisgeruch. Ohne ersichtlichen Grund packte Seja die Angst, aber sie ging trotzdem in die dunkle Wohnung.
Der Schnitt war typisch für die Siebzigerjahre: Am einen Ende des Korridors die Tür, am anderen die Toilette, zu beiden Seiten gingen die Zimmer und die Küche ab.
Frau Granith hatte sich auf einen Sessel im zugestellten Wohnzimmer gesetzt, und Seja schlug sich nach kurzem Zögern zum Sofa durch.
Sie setzte sich der Frau gegenüber, die das Gesicht zum Fenster gedreht hatte, obwohl die Gardinen vorgezogen waren und nur einen schmalen Streifen Licht hereinließen.
»Sie haben My also gekannt, sagen Sie?«, begann die Frau, ohne den Blick von den Gardinen abzuwenden.
»Ich kannte sie eher flüchtig«, antwortete Seja. »Wir sind uns ab und zu begegnet. Wir mochten uns. Ich meine, ich mochte sie zumindest, aber ich denke, sie mochte mich auch. Wir waren uns ziemlich ähnlich, glaube ich.«
Die Frau wandte Seja langsam das Gesicht zu. In ihren graugesprenkelten Augen regte sich nun endlich etwas. »Hatten Sie sie gern?«, fragte sie.
Ihre Unterlippe begann zu zittern, dann stiegen ihr die Tränen in die Augen.
O Gott, dachte Seja. Nach all den Jahren ist sie noch immer völlig am Boden.
Wie viel Hass und Zorn konnte ein Mensch in sich tragen, fragte sie sich, ohne irgendwann zusammenzubrechen? Vor allem so ein schmächtiger Körper: Die Frau konnte nicht mehr als vierzig Kilo wiegen.
Sie traute sich keine heftige Bewegung mehr zu machen. Sie glaubte, dass die kleinste Gesichtszuckung, das kleinste Eingeständnis ihrer Gefühle sich zu katastrophaler und
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