Wintermord
vervollständigen.«
»Ja, da gäbe es schon ein paar, zu denen ich Ihnen Kontakt vermitteln könnte. Aber ich glaube kaum, dass die so ein gutes Gedächtnis haben wie ich. Ich war wie die Spinne im Netz, verstehen Sie?«
Sie lachte wieder, doch Gonzales war überzeugt, dass Greta Larsson ihre Rolle an der Schule mit diesen Worten korrekt beschrieben hatte.
»Bevor wir auflegen – könnten Sie mir diese Hausmeisterin noch kurz beschreiben, Frau Larsson?«
»Natürlich, die hab ich noch lebhaft vor Augen. Sie war groß und ziemlich kräftig gebaut, ein bisschen maskulin, wenn Sie mich fragen. Dazu war sie tätowiert wie ein Seemann. Zum Beispiel diese Schlange, die sich am Hals emporschlängelte, wie so ein schwarzer Blutegel! Sie hatte kurze Haare, viel zu kurz für eine Frau, aber das gehört wohl zu dieser Veranlagung. Außerdem kleidete sie sich ein bisschen männlich. Sie behielt zum Beispiel gern ihren Blaumann an, auch wenn sie frei hatte. Und eine große Nase hatte sie, bilde ich mir ein.«
»Okay, vielen Dank, Frau Larsson. Sie waren uns eine große Hilfe.«
»Sie waren uns wirklich eine große Hilfe«, murmelte er noch einmal, nachdem er aufgelegt hatte.
62
Als Kind war sie ab und zu bei einer Tante in Borås gewesen. Abgesehen von diesen Verwandtschaftsbesuchen hatte Seja ihren Fuß nur ein einziges Mal in diese Kleinstadt gesetzt: Als sie mit einem treulosen Freund und ein paar Jungs, die sie gar nicht richtig kannte, zum Konzert einer Band fuhr, die sie gar nicht richtig mochte. Das Konzert fand in einem hässlichen Biker-Club statt.
So lebte sie damals. Ihre Jugendjahre waren geprägt vom Umgang mit Menschen, die sie nicht unbedingt mochte, von Aufenthalten in Kneipen und auf Partys, auf denen sie sich nicht amüsierte. Sie hörte Musik, weil man die eben hören musste. Und sie befriedigte die Jungs, vor lauter Dankbarkeit, dass sie sie wollten.
Sie versuchte, positiv zu denken. Ein Glück, dass ich jetzt über dreißig bin und endlich gelernt habe, Nein zu sagen. Nein zu langweiligen Festen mit langweiligen, egozentrischen Menschen. Nein zu diesem wahnwitzigen Wetteifern, wer am meisten hatte, es am weitesten brachte und am meisten geliebt wurde.
Andererseits waren leise Zweifel erlaubt, ob sie diesen Zustand wirklich erreicht hatte.
Sie musste sich aufs Autofahren konzentrieren. Es gehörte nicht unbedingt zu ihren starken Seiten, sich in fremden Städten zurechtzufinden, und als sie schließlich in die richtige Straße einbog, war es eher dem Zufall zu verdanken als der erfolgreichen Orientierung mit dem Stadtplan. Sie warf Kleingeld für eine Stunde in die Parkuhr – länger würde es wohl nicht dauern.
Dann hielt sie noch einmal inne, um ein letztes Mal zu überlegen.
Sie wusste, es lag eine schicksalhafte Bedeutung darin, dass sie vor zwölf Jahren vor jenem Biker-Club stand. Dass sie My gehen sah und dieses komische Gefühl im Magen hatte. Dass sie die Leiche vor Thomas Edells Werkstatt als eine der Ersten zu sehen bekam.
Einen Plan hatte sie nicht. Christian hatte ihr in seinem Zorn vorgeworfen, sie hätte ihre wahren Absichten verborgen, als sie eine Beziehung mit ihm anfing. Langsam war sie sich selbst nicht mehr ganz sicher. Hatte sie Absichten gehabt, die sogar ihr selbst verborgen geblieben waren? War diese Liebesbeziehung – der Glücksrausch, in dem sie geschwebt hatte, die intensive Sehnsucht, die sie jetzt spürte – ein weiteres Zeichen? Eins von diesen vielen Zeichen, die sie zu ein und demselben Schluss führten: Sie sollte sich dieser Geschichte annehmen. Und das würde sie tun, indem sie sie aufschrieb. Das war die einzige Art, wie sie es tun konnte.
My hatte sterben müssen. Weil sie gejagt worden war wie der Fuchs von der Meute und weil ihr niemand zu Hilfe gekommen war. Sie hätte überleben können, wenn rechtzeitig jemand gekommen wäre, bevor ihr Körper zu viel Blut verloren hatte und die Kälte ihr die letzten Lebensgeister raubte.
Ihre Schuldgefühle kreisten um die Unachtsamkeit, die sie My gegenüber gezeigt hatte: Sie war zu schwach gewesen, auf ihre innere Stimme zu hören oder mit der Polizei zu sprechen. Und um die Verachtung, die die Umwelt My entgegengebracht hatte, indem man die drei schuldigen Männer laufen ließ. Bis jetzt. Nun hatte der Mörder dafür gesorgt, dass sie ihre Strafe bekamen. Irgendwie konnte Seja verstehen, dass er die Gerechtigkeit selbst in die Hand genommen hatte. Ein ebenso irrationales wie primitives Gefühl von Neid lag
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