Wintermord
fragen. Verstehen Sie, was ich meine? Stensjön war ja keine große Schule, da kannte im Prinzip jeder jeden. Obwohl ich alt bin, gehöre ich nicht zu der verknöcherten Sorte, die keine andere Veranlagung duldet, aber man muss doch auch nicht in alle Welt hinausposaunen, was man so im Schlafzimmer treibt ...«
Sie holte tief Luft. »Ach, du liebe Zeit, ich rede und rede ...«
»Entschuldigen Sie, Frau Larsson, ich verstehe nicht ganz, was Sie mit ›anderer Veranlagung‹ meinen?«
»Sie war lesbisch! Daran ist sicher nichts Falsches, Herr Wachtmeister, aber es war eben so offensichtlich! Wissen Sie, die Schule hatte noch die alten Vorschriften, nach denen die Schüler des Internats keinen Herren- beziehungsweise Damenbesuch auf ihren Zimmern empfangen durften. Deswegen musste sie auch jedes Mal ins Hausmeisterhäuschen ziehen, wenn wieder gut Wetter zwischen den beiden war. Selbstverständlich war die Schule in dieser Hinsicht sehr unmodern, aber wahrscheinlich vermied man damit so einige Probleme. Nichts auf der Welt richtet so viel Chaos an wie die Liebe, Herr Wachtmeister. Und die Schüler waren schließlich zum Lernen da.«
»Sie sagen also, My Granith hatte ein Verhältnis mit der Hausmeisterin der Schule?«
»Genau das sage ich, und zwar im Grunde während ihrer ganzen Schulzeit hier. Ich habe einmal mit ihr zu reden versucht, als sie wie ein Häufchen Elend vor mir saß und ihr altes Zimmer im Internat wiederhaben wollte, weil es wieder mal aus war zwischen den beiden. Ich sagte ihr, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie sich mehr auf ihre Studien konzentrieren würde. Wahrscheinlich tat sie mir ein bisschen leid, sie war nämlich wirklich ein sehr intelligentes Mädchen. Natürlich war ihr völlig egal, was ich sagte, vermutlich dachte sie, ich sollte mich um meinen eigenen Kram kümmern. Sie war ja auch so verliebt, und Liebe macht blind, nicht wahr, Herr Wachtmeister? Das müssen Sie in all Ihren Jahren in Ihrem Beruf doch auch festgestellt haben – all diese crimes passionelles oder wie das heißt.«
Sie lachte, wurde aber schnell wieder ernst. »Natürlich ging es mich nichts an, aber ehrlich gesagt, hielt ich nicht allzu viel von dieser Frau, also, der Hausmeisterin, meine ich. Sie war ... irgendwie seltsam, das fand ich von Anfang an und habe meine Meinung auch nie revidiert. Nicht nur wegen ihrer Veranlagung, sondern auch ...«
Sie zögerte.
»Ja?«
»Ich möchte wirklich keinen Klatsch verbreiten, aber das ist ja schon alles so lange her, und Sie sagen, dass es für Ihre Ermittlung wichtig ist ... also ...«
»Was, Frau Larsson? Was ist wichtig für unsere Ermittlung?«
»Ich glaube, sie war in so einer psychiatrischen Anstalt, bevor sie an unsere Schule kam. Ich war ja Sekretärin im Aufnahmeausschuss – das waren der Rektor und die Lehrer, die vor jedem Herbstsemester die Anträge durchsahen und die Klassen zusammenstellten. Es war so gedacht, dass die Schule eine gewisse soziale Verantwortung übernehmen sollte, also ... Ich kann Ihnen sagen, dass die Meinungen darüber durchaus geteilt waren ... Jedenfalls war ihrer Bewerbung eine Empfehlung von einem Psychiater beigefügt. Ich hab ihre Bewerbung nicht gelesen, aber ich nehme an, in diesem Schreiben stand, dass ein Aufenthalt in einer ruhigen Umgebung auf dem Land ihre Genesung fördern würde. Ich erinnere mich nur deswegen so gut daran, weil sie dann angestellt wurde und wir fast Kolleginnen waren. Das war für mich ein bisschen ... befremdlich. Andererseits, diese ganzen psychischen Probleme, dafür wird heute ja niemand mehr schief angesehen. Heutzutage geht es jedem mal psychisch schlecht, hab ich das Gefühl. Nicht wie zu meiner Zeit.«
»Wissen Sie noch, wie sie hieß?«
»Aber selbstverständlich! Sie gehörte ja gewissermaßen zum Inventar der Schule. Ich hoffe, Sie haben mich nicht missverstanden, sie hat sicher keinem etwas getan. Allerdings glaube ich, dass ich nicht die Einzige im Personalstab war, die sie ein bisschen unangenehm fand. Caroline Selander. Irgendwann kündigte sie und verschwand. Das dürfte so um die Zeit gewesen sein, die Sie genannt haben, ’95 vielleicht.«
Gonzales schrieb mit, als hinge sein Leben davon ab. »Frau Larsson, das ist wirklich äußerst interessant für uns. Ich würde gern später noch mal mit Ihnen sprechen. Außerdem möchte ich Sie bitten, nachzudenken, ob Ihnen noch jemand aus dieser Zeit einfällt, mit dem ich Kontakt aufnehmen könnte, um Ihre Angaben zu
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