Wintermord
Polemik mit Bärneflod weitergetrieben oder ob er – wie in den meisten Fällen – einfach abgewartet hatte, bis sein Ärger von selbst verflog.
Seltsamerweise hörte er in diesem Moment Schritte vor seinem Zimmer und sah auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. Karlberg streckte den Kopf herein. Es war ein Tag vor Heiligabend. Tell hatte seine Kollegen vor ein paar Stunden ausdrücklich dazu aufgefordert, nach Hause zu fahren.
»Was machst du denn hier?«, fragte er.
Karlberg zuckte mit den Schultern, und Tell zog ein gespielt böses Gesicht. »Raus mit dir. Frohe Weihnachten!«
»Gleichfalls.«
Karlberg verschwand. Erst jetzt dachte Tell darüber nach, wie er Weihnachten verbringen sollte. Natürlich hatte er wie jedes Jahr eine Einladung zu seiner großen Schwester Ingrid, die in einem riesigen Haus in Onsala wohnte.
Als Erwachsene hatten die Geschwister nicht viel Kontakt gehabt, hauptsächlich wegen des Mannes, den Ingrid geheiratet hatte: einen Aktienmakler, den Tell ziemlich unsympathisch fand und der bei seinen Wertpapiergeschäften nicht immer im Einklang mit den Gesetzen handelte.
Ja, und dann die kleine Ingrid – Tell wusste nicht, welche Möglichkeit er schlimmer finden sollte: Dass sie über die Machenschaften ihres Mannes Bescheid wusste und sich nicht einmischte, oder dass sie blauäugig genug war, nicht zu begreifen, was im Büro ihres Gatten vor sich ging.
Beide Alternativen verursachten bei Tell so große Beklemmungen, dass er das Haus seiner Schwester mied. Außer zu Weihnachten, wenn er und sein Vater, der zunehmend verwirrte Witwer, eingeladen wurden und sich auf die protzigen Sessel setzten, diese Symbole der Großzügigkeit der Gastgeber. Auf einmal begriff er, dass das der Grund war, weshalb er den Tag vor Heiligabend hier am Schreibtisch verbrachte, während in den Büros ringsum das Licht ausging.
Er griff nach dem Telefonhörer.
»Krook.«
»Hallo Schwesterherz, Christian hier. Na, voll im Stress?«
»Na ja, ich hab alle Hände voll zu tun. Kommst du morgen? Ich hab versucht, dich anzurufen, Papa auch, aber es ist keiner rangegangen.«
»Ja, ich weiß. Ich hätte mich melden sollen, aber ich stecke mitten in einer komplizierten Mordermittlung und ...«
»Du schaffst es wahrscheinlich nicht?«
»Nein, tut mir leid. Ich werde Weihnachten wohl durcharbeiten müssen.«
»Tja, da kann man wohl nichts machen, ich versteh das schon. Die Pflicht geht über alles. Aber Papa wird enttäuscht sein. Er meint, er sieht dich nur noch zu Weihnachten, obwohl ihr so nah beieinander wohnt.«
»Na ja, was heißt nah ...«, verteidigte sich Tell schwach. »Es sind immerhin zehn Kilometer, Nachbarn sind wir nicht gerade.«
»Ja, ja. Ist ja auch egal, wir sehen uns dann eben ein andermal. Ich schick dir dein Geschenk. Also, dann pass gut auf dich auf, Christian. Mach dich nicht völlig kaputt mit deiner Arbeit. Frohe Weihnachten.«
Wenn er vorher noch nicht ganz überzeugt gewesen war, so war er jetzt sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Mach dich nicht völlig kaputt mit deiner Arbeit . Tja, sie lief bestimmt nicht Gefahr, sich totzuarbeiten, sie war finanziell unabhängig, und die beiden Söhne waren groß und mussten nicht mehr bemuttert werden. Trotzdem wälzte sie die Verantwortung für ihren Vater auf ihn ab.
Am Zaun des Parkplatzes zeichnete sich eine Gestalt ab, die aufs Haus starrte. Tell wusste, dass man ihn von draußen nicht sehen konnte, denn außer dem elektrischen Adventskranz brannte in seinem Zimmer kein Licht. Als der Junge versuchte, sich über den Zaun zu hangeln, klopfte Tell kräftig gegen die Fensterscheibe und erschreckte den armen Kerl zu Tode.
Seine Erleichterung, sich ums Weihnachtsfest in der Krook’schen Villa gedrückt zu haben, machte einem unguten Gefühl Platz: dem Gedanken an eine leere Wohnung und den blauen Schein der Neonreklame auf der anderen Straßenseite. Er überlegte, ob wohl noch ein Rest in der Flasche Jameson-Whisky war, die er kurz nach dem Luciafest geöffnet hatte.
Die kriminaltechnische Untersuchung des Tatorts war abgeschlossen, doch aus alter Gewohnheit parkte er seinen Wagen trotzdem am Straßenrand.
Sobald er in der Garage war, zog er das Tor herunter, damit das kalte Neonlicht nicht über den Hof fiel, während er sich ein Bild von Lars Waltz’ Büchern im Büro der Werkstatt verschaffte. Auch wenn kaum anzunehmen war, dass der Mörder so lange nach der Tat an den Schauplatz des Verbrechens zurückkehrte, wollte Tell
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