Wintermord
gesehen?« Die Frage konnte er sich nicht verkneifen.
Sie musste fast rennen, um mit seinen Schritten mithalten zu können. »Nein. Es war so dunkel, außerdem standen Sie ja auf der anderen Seite der Einfahrt.«
Sie zögerte, als er die Beifahrertür öffnete. »Darf ich mit meinem Auto nach Hjällbo fahren, dann können wir eine Tasse Kaffee trinken. Ich hätte wirklich gern eine, und ich hab nichts mehr vor heute Abend. Dann können Sie mich vernehmen.«
Vergeblich versuchte Tell, einen spöttischen Unterton in ihrer Stimme auszumachen. Er überlegte, ob er sie einfach laufen lassen und zu einem Gespräch nach den Feiertagen bestellen sollte. Schließlich stand sie nicht unter Mordverdacht.
Aber um ehrlich zu sein, gefiel ihm die Idee mit dem Kaffee sogar ziemlich gut im Vergleich zu seinen Alternativen: Whiskyflasche, Fernseher und das hallende Echo im Präsidium.
Er fasste einen Entschluss. »Wenn Sie am 23. Dezember Kaffee trinken wollen, müssen wir wohl in die Stadt fahren. In Hjällbo ist jetzt kaum noch was geöffnet.«
»Wollen wir ins Bahnhofsrestaurant gehen?«, schlug sie vor. Ihr Lächeln kam ihm bekannt vor, obwohl er nicht recht wusste, woher.
Nachdem sie sich gegen die Kneipe am Hauptbahnhof entschieden hatten, weil die Kundschaft hauptsächlich aus Kleinkriminellen bestand, landeten sie schließlich in einem riesigen Lokal, in dem sich Jugendliche auf drei Ebenen um runde Tische drängten. Die Wände waren dunkelrot und mit Fotos aus den Fünfzigerjahren geschmückt.
Seja sprach ihm aus der Seele, als sie sagte: »In solche Läden gehe ich sonst nicht unbedingt.«
Sie setzten sich an einen Tisch, der gerade von einem Liebespärchen geräumt wurde. Der Ort war denkbar unpassend.
Als sie den Kopf senkte und konzentriert in ihrem großen Stoffrucksack wühlte, bemerkte Tell ein Loch im Nasenflügel, das er im ersten Moment für ein Muttermal gehalten hatte.
Seja beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich war nicht dabei, als Åke ihn gefunden hat«, erklärte sie.
»Ja, ich weiß«, sagte Tell. »War ja offensichtlich gelogen. Die Frage ist nur – warum? Das müssen Sie mir erklären.«
Sie seufzte und kaute an ihren Fingernägeln. »Ich kann es selbst nicht erklären. Mir ist klar, wie bescheuert das aussehen muss, aber ich ... wollte den Toten sehen. Irgendetwas hat mich dort hingezogen. Ich bin Journalistin ... Na ja, also bald jedenfalls. Ich hatte vielleicht einfach vor ... Ach, vergessen Sie’s. Åke fand es eben so unheimlich, dass er nicht alleine zurückfahren wollte. Außerdem war ja sein Auto kaputt.«
Sie sah Tell fest in die Augen, als sie wiederholte: »Ich wollte den Toten sehen. Deswegen habe ich gelogen und mich als Zeugin ausgegeben. Sonst hätte ich den Hof ja nie betreten dürfen.«
»Und, was haben Sie sich dann gedacht?«
Er bemerkte, dass sie einen Moment zögerte. Nach zahllosen Verhören hatte er gelernt, wie es aussieht, wenn der Vernommene überlegt, wie viel er von der Wahrheit preisgeben soll.
»Ich war fasziniert. Und gleichzeitig hatte ich Angst.«
Er nickte. Diese Faszination für Tatorte hatten sie gemeinsam. »Was haben Sie heute dort gemacht? In der Dunkelheit, einen Tag vor Heiligabend?«
Ihre Mundwinkel zuckten in einem unterdrückten Lachen. »Und Sie? Was ist mit Ihrem Weihnachten? Haben Sie nichts Besseres zu tun, als an so einem Tag am Schauplatz eines Mordes herumzuschleichen?«
»Beantworten Sie meine Frage«, beharrte Tell.
Sie lehnte sich zurück. »Weihnachten macht mir Angst. Ich bin frisch getrennt und wohne allein. Manchmal fühle ich mich schrecklich einsam. Ich bin nach Björsared gefahren, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, bereits in die Sache verwickelt zu sein. Ich habe an die Frau des Opfers gedacht. Ich wollte sehen, ob sie da ist, und mit ihr reden.«
»Als Teil Ihrer Recherche, oder was?«
Sie tat, als hätte sie seinen zynischen Unterton nicht bemerkt.
»Ich wollte nur mit ihr reden. Das war alles. Aber sie war ja nicht da. Und dann haben Sie mich angesprungen.«
Eine Techno-Version von »Jingle Bells« dröhnte in voller Lautstärke durchs Lokal, und ein paar junge Leute begannen mitzugrölen.
Tell sah Seja an und rang sich ein Lächeln ab. »Gehen wir. Ich glaube, ich weiß einen besseren Ort, wo wir vielleicht noch was Stärkeres trinken können. Das dann aber ohne Kommissar Tell. Christian muss reichen.«
Sie erwiderte sein Lächeln. Als er gerade seine eigene Professionalität
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