Wintermord
wusste, was jetzt kommen würde. Sie setzte sich aufs Sofa und legte sich ein Kissen auf den Bauch.
Auf einmal fand sie sich und ihre Mutter zum Totlachen. Zwei Frauen in der hoffnungslos zugestellten kleinen Wohnung, jede mit ihren psychosomatischen Wehwehchen. Und gleich würde Solveig verlangen, dass sie nach Frufällan rausfuhr.
»Er ist noch ein Kind, und es ist deine Pflicht als große Schwester, dich auf den Weg zu machen und ihn zu holen.«
My bereute schon, nach Hause gefahren zu sein. Stensjön und Caroline, das war ja nichts im Vergleich zu hier.
»Solveig«, sagte sie, denn sie wusste, wie ihre Mutter es hasste, von ihr mit Vornamen angesprochen zu werden. »Ist okay. Ich weiß, wo das ist. Der Club ist so weit von jeder Haltestelle entfernt, dass es keinen Zweck hätte, mit dem Bus zu fahren. Habt ihr noch das Fahrrad?«
Ihre Mutter nickte und ihre Gesichtszüge entspannten sich. »Im Fahrradkeller. Du musst wahrscheinlich die Reifen aufpumpen, seit du weg bist, hat es keiner mehr benutzt.«
My nickte grimmig. »Gut, dann nehm ich mir jetzt mal ein Glas von dem Wein, den du im Schrank versteckt hast, während ich mich darauf vorbereite, Sebastian vor seinen Freunden zu blamieren.«
Sie brachte es nicht über sich, ihre Mutter anzusehen. Solveig suchte verzweifelt nach einem Gesichtsausdruck, der deutlich genug zeigte, wie gekränkt sie von der Unterstellung war, Wein im Schrank versteckt zu haben. Immerhin hatte sie erreicht, dass My tat, was sie von ihr wollte. Sie stand auf und holte die halb volle Weinflasche.
Früher hatte ihre Mutter vielleicht nicht glaubwürdig, aber doch geschickter gelogen, dachte My, als sie stadtauswärts über den schlecht beleuchteten Fahrradweg durch den Regen strampelte. Naiv wie sie war, hatte sie tatsächlich geglaubt, es könnte sich etwas verändert haben. Zur Strafe dafür – und für alles andere gleich dazu – stürmte es jetzt auch noch. Der eisige Regen peitschte ihr ins Gesicht. Sie fluchte lautstark, aber ihre Worte wurden vom Wind verschluckt, der jetzt ungehindert übers freie Feld pfiff.
Als sie zum Clubheim der Evil Riders abbog, wurde es ein bisschen besser. Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen, den Club nicht mehr zu finden: Der Weg war mit einem Schild gekennzeichnet, unter dem eine Partyfackel brannte. Ab hier konnte man sich gar nicht mehr verfahren, denn der schmale Kiesweg ging scheinbar endlos so weiter. My fühlte sich, als würde sie ohne Karte und Kompass auf direktem Weg ins Nichts fahren.
Wenn sie nur schon da wäre. Das Fahrrad würde sie dort draußen stehen lassen und sich von Sebbe auf seinem Mofa mitnehmen lassen.
Am Ende des Weges, der sich wie eine schwarze Schlange durch den Wald wand, sah sie schließlich die Lichter des Clubs. Aus dem Gebäude dröhnte Musik. Trotz der Kälte standen Tür und Fenster weit offen. Ein Hund kam heraus und hob sein Bein an der verputzten Fassade.
Wenig später kam ein Mädchen mit blondierten Haaren aus dem Club. Sie trug einen kurzen Rock und Stiefel, und irgendwie kam sie My bekannt vor. Sie rief nach dem Hund und ging vor ihm in die Hocke, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Dann nickte sie My kurz zu und ging wieder hinein. My trat durch das Tor und lehnte ihr Fahrrad neben ein Motorrad mit Beiwagen an die Wand.
Als sie über die Schwelle trat, setzte sie, wie gewohnt, ihre Maske auf, an der eventuelle Beleidigungen und Kränkungen abprallten.
Zumindest nach außen sah es so aus, als könnte nichts sie wirklich treffen.
In der Tür stand ein riesiger Typ mit Pferdeschwanz. Als er beiseitetrat, konnte My in den verrauchten Clubraum blicken.
Abgesehen von ein paar Kerzen in Flaschen, die auf Tischen und Bänken verteilt waren, glühenden Zigaretten und einer kleinen elektrischen Lampe über der rot gestrichenen Bar, gab es keine Beleuchtung. Sobald sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie die Gäste, die an die Wände gelehnt auf dem Boden saßen.
Sebastian war nirgends zu entdecken. Die meisten waren schon älter, über dreißig, und viele trugen die Farben des Biker-Clubs auf dem Rücken ihrer Jacken. Der Mann mit dem Pferdeschwanz war hinausgegangen und zündete sich gerade eine Zigarette an.
Da er freundlich aussah, lehnte sich My aus der Tür und rief: »Entschuldigung. Wissen Sie vielleicht, ob hier irgendwo ein Junge namens Sebastian rumläuft? Er ist mit einem Freund gekommen. Ich glaube, der heißt Krister.«
Der Pferdeschwanz grinste. »Da drinnen
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