Wintermord
Verzweiflung und ausgedehnten Strafaktionen in Form von Schweigen oder Gemeinheiten. Carolines Reaktion schien My zwar übertrieben, trotzdem hatte sie nachgegeben.
Sonst hätte man annehmen können, dass ihr Magenproblem mit der Stadt zu tun hatte. Die Magennerven – diese Schlinge um den Hals – charakterisierten ihr Verhältnis zu ihrer Mutter. Der armen Solveig.
Schon früh hatte sie begriffen, dass Mama einem im Grunde leidtun musste. Im Laufe der Jahre gesellte sich zu ihren Schuldgefühlen die Wut über diese Schuldgefühle, und die Liebe verband sich mit der Wut über jeden, der von den Schuldgefühlen anderer Menschen lebte.
Der Geruch von zu Hause traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Er saß in den Menschen, die hier wohnten, in den Möbeln aus Kiefernholz und dem Sessel mit Laura Ashley-Bezug, den Mama beim Preisausschreiben einer Frauenzeitschrift gewonnen hatte. Die Schwingungen, die My wahrnahm, sagten ihr, dass sie schon beim Eintreten nach ihrer Mutter rufen sollte, damit Solveig sich nicht überrumpelt fühlte.
Doch sie brachte nur ein unbestimmtes Knurren heraus.
Solveig war im Schlafzimmer. My wusste, dass ihre Mutter ihre Anwesenheit längst bemerkt hatte, wartete aber geduldig an der Tür, bis die Schultern aufhörten zu zucken.
»Meine Kleine!« Solveig wandte ihr das tränenüberströmte Gesicht zu. Die nassen Wangen drückten sich kalt und weich gegen Mys Hand wie ein Stück Teig in Frischhaltefolie. »Mama ist nur ein bisschen traurig.«
Diese Worte kannte My nur zu gut aus ihrer Kindheit.
»Aber jetzt ist alles gut, jetzt bist du ja da.«
Den Abwasch ließen sie nach dem Abendessen stehen und setzten sich ins Wohnzimmer. Solveig hatte Limo und Chips gekauft und Popcorn in der Mikrowelle gemacht, und im Fernsehen lief eine romantische Komödie.
Das Wohnzimmer war kleiner als in Rydboholm. Immer wieder betonte Solveig, dass sie so wenig Platz hatte.
Und immer wieder versicherte My geduldig: »Aber das war die beste Entscheidung, die du treffen konntest, Mama. Es ist doch viel angenehmer für dich, in der Stadt zu wohnen.«
»Was? Jetzt, wo Sebastian auch bald von zu Hause auszieht? Wenn ich ganz allein bleibe? Ich vermisse den Parkettboden, ich vermisse meine Sachen. Einen ganzen Speicher habe ich mit meinen ausrangierten Möbeln vollgestellt. Was soll ich denn überhaupt hier in der Stadt? Ich sitz doch sowieso nur zu Hause. Wenn jemand Geld für seine Wohnung ausgeben sollte, dann doch wohl ich.«
»Erstens ist Sebbe erst fünfzehn, der zieht noch lange nicht aus. Und vielleicht solltest du dir einfach was suchen, was du nur für dich machst. Wenn du niemand mehr hast, um den du dich kümmern musst, dann wäre es schön, wenn du ein Hobby hättest.«
Ihre Mutter bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. »Was sollte das denn bitte sein?«
»Keine Ahnung. Ein Tanzkurs? Oder vielleicht eine Fremdsprache?«
My zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass es zwecklos war. Ihre Mutter schnaubte, nahm ihre Zigarettenschachtel und das Feuerzeug und setzte sich auf einen Stuhl am Fenster.
Nachdem sie es einen Spaltbreit geöffnet hatte, blies sie den Rauch hinaus und spähte besorgt auf die Straße. »Es ist so dunkel hier ... Es hieß schon, dass sie hier Straßenlaternen aufstellen wollen«, murmelte sie. »Damit die Frauen sich nicht mehr vor Vergewaltigern und solchem Gesindel fürchten müssen. Als ob das was helfen würde.«
My stellte sich neben sie. Schweigend beobachteten sie einen Abendspaziergänger mit seinem Hund.
»Machst du dir Sorgen um Sebbe?«, fragte My schließlich.
Solveig nickte, und die Tränen liefen ihr wieder über die Wangen.
»Mama! Es ist grade mal halb neun. Er wollte doch auf eine Party, oder?«
»Ich hab ihm nicht erlaubt hinzugehen!«, schrie Solveig und inhalierte so heftig, dass sie einen Hustenanfall bekam und sich vorbeugen musste, um ein paarmal tief durchzuatmen.
Im Licht der Stehlampe bemerkte My, dass die Haare ihrer Mutter fast bis zum Boden reichten. Und seit wann war sie überhaupt so grau?
»Er ist erst fünfzehn. Auf solchen Biker-Partys trifft sich doch nur übles Gesindel. Ohne Schlaftabletten krieg ich heute Nacht kein Auge zu.«
Solveig legte sich die Handfläche auf ein Ohr. »Böse. ›Evil‹ heißt dieser Club. Böse.«
»Eine Biker-Party? Wo denn?«
»Ich glaube in Frufällan.«
»Ach, die Evil Riders. Ja, ich weiß schon, die haben da so ein Clubhaus. Ich kenne auch Leute, die da mal hingegangen sind.«
My
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