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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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geringsten Widerstands.
    Also war er auch daran Schuld, dass My dort lag, wo sie jetzt lag. Das war ganz logisch. Und wenn er zehnmal einwandte, dass er nicht darum gebeten hatte, abgeholt zu werden, dass er auf sich selbst aufpassen konnte und von Solveigs bleischwerer Angst nichts wissen wollte.
    Doch, der Gedanke war ihm kurz gekommen. Als My auf ihrem Fahrrad davonfuhr und er hörte, wie ihr einer dieser Neandertaler perverses Zeug hinterherrief. Er hatte noch gedacht, dass sie wahnsinnig sein musste, so ganz alleine nach Hause zu fahren.
    Er hatte sich auf der dunklen Treppe versteckt, sodass er ihr durch ein kleines Fenster nachblicken konnte, als sie davonstrampelte. Deswegen nahm er jetzt auch die Schuld auf sich: Er hatte sie nicht aufgehalten, obwohl er wusste, dass sie überfallen und vergewaltigt werden konnte.
    Vergewaltigt worden war sie nicht, das hatten die Ärzte mehrfach wiederholt, als ob das Mama und Sebastian die Sache erleichtern würde. Abgesehen von der Kopfwunde, die sie sich beim Sturz auf einen spitzen Stein zugezogen hatte, war sie unverletzt.
    Die Kratzer auf den Händen und im Gesicht hatte My sich zugezogen, als sie durchs Gestrüpp gerannt war.
    Noch konnte niemand die Frage beantworten, warum My in den dunklen Wald gerannt war. Sebastian glaubte jedoch zu wissen, was sie getrieben hatte.
    Die Erkenntnis, was für Panik My in ihren letzten Minuten gefühlt haben musste, drängte er in einen isolierten Raum in seinem Körper. Von dort würde er sie zum richtigen Zeitpunkt wieder hervorholen. In diesem innersten Versteck bewahrte er so manches. Manchmal fragte er sich, was wohl passieren würde, wenn er eines Tages den Schlüssel holte, die Tür langsam öffnete und wartete, dass die Sintflut hervorbrach. Wehe dem, der ihr im Wege stand.
    Warum hätte sie das Fahrrad wegwerfen und in den Wald laufen sollen, wenn sie nicht Todesangst gehabt hätte? In Todesangst hatte sich My Hände und Wangen an den Zweigen aufgerissen. Davon war er nicht abzubringen. Abermals musste er die Angst aus seinem eigenen Körper drängen. Sie durfte ihn jetzt noch nicht packen. Langsam schlich er in das dunkle Wartezimmer zurück und ließ sich aufs Sofa sinken.
    Normalerweise perlten Beschuldigungen und Versuche, ihm Schuldgefühle einzureden, an ihm ab. Um mit Solveig überleben zu können, hatte er sich ein dickes Fell zulegen müssen. Er wollte nicht wie My werden, die immer wieder auf Kollisionskurs mit ihrer Mutter ging und sie dabei manches Mal am liebsten erschlagen hätte.
    Sebastian hatte schon früh beschlossen, sich aus diesem Spielchen auszuklinken. Dafür hatte er eben in Kauf nehmen müssen, immer nur die Silbermedaille im Kampf um Mamas Gunst davonzutragen. Doch Gold kostete einfach zu viel – obwohl er als kleiner Junge weiß Gott darum gekämpft hatte.
    Eine Krankenschwester kam und schaltete das Licht ein. Der weiche Lichtschein reichte genau bis zu Sebastians Schuhen.
    Natürlich konnte er nicht hier im Krankenhaus schlafen. Das würde Aufsehen erregen, obwohl er sich durchaus vorstellen konnte, die ganze Nacht auf diesem Sofa sitzen zu bleiben und vor sich hin zu starren. Eigentlich fehlte ihm nur sein Discman. Nichts anderes hätte ihn jetzt von diesem undefinierbaren, sinnlosen Misserfolg losreißen können, von diesem wertlosen Ich. Genau so sah er sich.
    Nach Hause gehen konnte er nicht, so viel war sicher. Mys Tasche stand noch im Flur. Sie selbst lag wie ein Bündel in einem Krankenzimmer. Die Ärzte waren sich bereits hundertprozentig sicher, dass sie nie wieder etwas anderes sein würde als ein Bündel. Egal, was er sich selbst über seine Verantwortung in dieser Sache sagte, er würde niemals etwas daran ändern können, dass Solveig es als seine Schuld betrachtete.
    Am liebsten wäre er zu My gegangen, wäre sie nicht von einem ganzen Trupp von Pflegepersonal umgeben gewesen. Er hätte ihr gern erklärt, warum er so reagiert hatte, als sie ihn abholen wollte. Dass Musik so wichtig für ihn geworden war, weil er durch sie vergessen konnte. Wenn das überhaupt jemand verstehen konnte, dann sie. Auch wenn sie ansonsten überhaupt nichts mehr verstand. Könnte er doch nur mit ihr reden.
    Andererseits lag der Gedanke nahe, dass auch Solveig heute Nacht nicht zu Hause schlafen würde. Das Krankenhauspersonal würde sie in ihrem Zustand nicht weglassen. Sie würde in der Irrenabteilung landen und wahrscheinlich eine Weile dort bleiben. Mit anderen Worten: Die Wohnung wäre leer.
    Er

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