Wintermord
die Hälfte von dem, was viele von unseren Pflegekindern durchgemacht haben, bevor sie zu uns kamen – aber ich weiß noch, dass ich mich bei Olof doch gewundert habe.«
»Warum gewundert? In seiner Akte steht, dass er einen Raubüberfall in einem kleinen Supermarkt begangen hat. Und auch ein gestohlenes Auto wird hier erwähnt.«
»Nein, ich meine ja nur, dass Olof ansonsten so einen ... vorsichtigen Eindruck machte. Er war ziemlich eigen. Ein bisschen unterwürfig, fast schon ängstlich manchmal. Er konnte einem nie in die Augen sehen, und ich fand es eben seltsam, dass dieser passive Junge wirklich jemand eine Pistole vor die Nase halten und Geld verlangen konnte. Irgendwie fand ich, das war wie ... ein Fortschritt nach hinten. Dass er endlich mal die Initiative ergriffen hat. Ich glaube, Sie verstehen schon, wie ich das meine ...«
Tell ging aber nicht darauf ein. »›Villa Björkudden‹ war also eine Konsequenz dieser Tat?«
»Genau. Ein Schulheim oder ein geschlossenes Internat oder so was in der Art. Da war er nur ein Jahr. Wir waren trotzdem noch seine Kontaktfamilie, also kam er im ersten Halbjahr noch an den Wochenenden zu uns.«
»Und dann?«
Am anderen Ende der Leitung zuckte Jidsten wahrscheinlich mit den Achseln. »Tja, sagen Sie’s mir. Das Sozialamt beschloss, dass er keine Kontaktfamilie mehr brauchte.«
»Und wie ging es weiter, nachdem er seine Strafe abgesessen hatte?«
»Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich. Wir haben jeden Kontakt mit Olof verloren.«
Er lachte, aber es klang traurig. »Ich nehme an, dass es ihm nicht gut ergangen ist, sonst hätten Sie uns heute wahrscheinlich nicht angerufen.«
Tell beendete das Gespräch, stand auf und fasste sich ans Kreuz. Es fiel ihm schwer, einzusehen, dass das Alter allmählich seinen Tribut forderte und dass er wieder Sport treiben müsste.
Früher hatte er sich jeden Donnerstag mit Teilnehmern aus den Dezernaten zum Bandyspielen in der Eissporthalle getroffen. Sie lieferten sich amateurhafte Matches, um zum Schluss in die Sauna und vielleicht noch auf ein Bier in die Stadt zu gehen. Er konnte sich nicht erklären, warum er in den letzten Jahren nicht mehr hingegangen war, und schickte sofort eine Mail an Kenth Stridh, den damaligen Mannschaftskapitän.
Dann saß er eine Weile am Schreibtisch und starrte aus dem Fenster.
Wenn er die Akte des Sozialamts richtig interpretierte, hatte Olof Pilgren nach seinem Aufenthalt in »Villa Björkudden« eine eigene Wohnung bezogen. Die Adresse konnte er nicht herausfinden, nur dass es in Hjällbo gewesen sein musste. Am Rand war jedoch der Name Thorbjörn Persson vermerkt, zusammen mit einer Telefonnummer. Der Teilnehmer war nach so langer Zeit natürlich nicht mehr unter dieser Nummer zu erreichen.
Stattdessen rief er Birgitta Sundin an und erfuhr von ihr, dass Pilgren vom Sozialamt eine Wohnung bekommen hatte, dabei aber vorläufig noch der Aufsicht einer Kontaktperson unterstellt wurde.
In der nächsten halben Stunde rief er bei diversen Thorbjörn Perssons in der Gegend um Göteborg an, um sie zu fragen, ob sie in den Achtzigern als Kontaktperson für Sozialfälle gearbeitet hätten. Zu guter Letzt hatte er Glück: Dieser Persson wohnte sogar noch in der Stadt und konnte sich kurzfristig mit ihm treffen.
»Da muss ich sowieso vorbei«, sagte Tell zu Persson, als Gonzales mit seinem Handy am Ohr in der Tür erschien.
Tell drückte die Stummschaltetaste.
»Treffer«, verkündete Gonzales. »Ein Mädchen in einer Tankstelle in Hedvigsborg, nicht weit von Borås, hat einen Kunden bedient, der einen Grand Cherokee betankt hat. Der Zeitpunkt kommt hin, die besorgen uns jetzt das Band aus der Überwachungskamera. Außerdem haben sich heute auf unser Rundschreiben zwei Mietwagenfirmen gemeldet: eine im Mölndalsväg. In beiden Fällen konnten sie sich gut an den Kunden erinnern, der den Jeep ausgeliehen hat.«
»Was hast du ihnen gesagt?«
»Dass wir gleich vorbeikommen.«
Tell verabredete sich für den nächsten Tag am frühen Nachmittag mit Thorbjörn Persson. Hätte er nicht so schreckliche Kreuzschmerzen gehabt, hätte er einen Freudensprung hingelegt.
»Komm, lass uns fahren«, sagte er und boxte Gonzales vergnügt gegen die Schulter.
37
Während Tell draußen eine Runde drehte, betrat Gonzales die Tankstelle. Die junge Aushilfe konnte in der Scheibe neben dem Kassentresen nur ihr eigenes Spiegelbild sehen. Die Zapfsäulen waren jedoch erleuchtet und eine wurde gerade von einer
Weitere Kostenlose Bücher