Wintermord
ihm stand der Arzt, legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte seinen Kopf an sich. Sein Bauch roch nach Rasierwasser und ganz leicht nach Desinfektionsmittel. »Schon gut, schon gut«, sagte er, und Sebastian stieg Schweißgeruch in die Nase.
Schließlich riss er sich los und übergab sich auf Solveigs Hose. Im nächsten Moment war er auch schon aus dem Zimmer.
In einem Wartezimmer des großen Krankenhauses beruhigte er sich ein wenig, nachdem er ziellos durch Korridore und Treppenhäuser gerannt war. Das Angenehme an diesem Wartezimmer war das Halbdunkel. Obwohl es bereits dämmerte, hatte noch niemand das Licht angeschaltet. Er konnte keinem Menschen in die Augen blicken.
Nachdem er sich auf ein grün genopptes Sofa hatte fallen lassen, wartete er auf die Tränen, die nicht kamen. Seine Augen waren trocken und heiß, als hätte er Fieber. Mit hämmerndem Herzen schlug er eine Zeitschrift auf und legte sie sich auf den Schoß, damit sein Blick sich an etwas festhalten konnte.
Ein Weißkittel trat in den Tunnel seines Blickfelds. Es war eine junge Frau mit Pferdeschwanz, die ihn mit besorgter Miene ansprach. Das Rauschen in seinen Ohren stieg an und verebbte wieder. Obwohl er sich bemühte, sie zu verstehen – weil er nicht wahnsinnig wirken wollte –, konnte er nur erkennen, dass sie etwas sagte, aneinandergereihte Worte, die nun auch nichts mehr ändern konnten.
Er stand auf und ließ sie entgeistert stehen. Mit schnellen Schritten überquerte er den Flur und steuerte auf die Aufzüge zu. Einer der Fahrstühle konnte ihn in eine andere Abteilung des Krankenhauses bringen, zum Beispiel in das Stockwerk, wo seine Mutter jetzt wahrscheinlich lag. Vollgepumpt mit Tabletten und sicher auch mit Gurten fixiert, zumindest, bis die Spritze zu wirken begann. Bestimmt war sie einem der Ärzte an die Kehle gesprungen, und Sebastian dachte, dass sie sogar in einer Situation über das Ziel hinausschoss, in der jeder normale Mensch das Recht hatte, zu schreien und verrückt zu spielen.
Oder er konnte in das Stockwerk fahren, in dem My lag und aussah, als schliefe sie oder wäre tot.
Ihm fiel ein Comic ein, in dem es um einen Mann ging, der niedergestochen worden war. Der Mann hatte überlebt und lag im Koma. Bewusstlos schwebte er zwischen Leben und Tod und hielt sich in einem ganz speziellen Land auf, dem »Übergangsland«. Darauf können die meisten Menschen, die innerhalb von Sekunden an einem Herzinfarkt sterben oder auf den Asphalt vorm Hochhaus aufschlagen, nur einen flüchtigen Blick erhaschen. So kurz, dass sie hinterher meinen, sie hätten es sich nur eingebildet. Wenn es denn ein Hinterher gab.
Die Gespenstermenschen, die dieses Übergangsland bewohnen, sind ganz besondere Gestalten, ruhelos und entwurzelt. Jetzt war auch My so ein Gespenst.
Ein weiterer Weißkittel tauchte auf und suchte den Augenkontakt zu ihm.
»Ich warte auf meine Mutter«, wehrte Sebastian ab.
War es denn so schwer, in Ruhe gelassen zu werden? Der Weißkittel nickte zwar, schien aber nicht ganz zufrieden mit der Antwort. Doch als er ansetzte, noch etwas zu sagen, ging sein Pieper los, und er entfernte sich rasch.
Auf einmal bekam Sebastian Angst. Vielleicht hatte Mamas Arzt ja im Krankenhaus Bescheid gegeben, dass sie nach ihm Ausschau halten sollten? Vielleicht war seine Beschreibung ans gesamte Personal gemailt worden: Wenn Sie einen nervösen, ziemlich hässlichen Fünfzehnjährigen mit Jeansjacke, Jeans, rotem Pulli und jeder Menge Pickeln sehen, schicken Sie ihn zu seiner Mutter in die Psychiatrie.
Die falsche Besorgnis machte ihn wütend, sie diente doch nur dazu, die Vorwürfe zu überspielen, die er nur zu deutlich in den Augen der Samariter las. Schließlich hatte er es seiner Schwester gegenüber an jedem normalen Beschützerinstinkt fehlen lassen.
Natürlich hatte er gewusst, dass das nächste Wohngebiet weit entfernt war, es war dunkel, und überall liefen besoffene Idioten herum – wenn die Band nicht gespielt hätte, wäre er nie da rausgefahren, um sich in die intelligenzfreie Zone dieser Bauern zu begeben.
Wenn Krister ihm nicht die ganze Zeit in den Ohren gelegen hätte . Krister, der Death Metal sowieso für einen Witz hielt und nur deswegen unbedingt auf die Party gehen wollte, weil sie dort auch an Fünfzehnjährige Alkohol ausschenkten, ohne Fragen zu stellen.
Immer gab er nach, wenn Krister ihn zu etwas drängte. Er hatte weder Rückgrat, noch einen eigenen klaren Willen und ging immer den Weg des
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