Wintermord
dass hier ein Kind wohnte. Und ein Kind hat niemals an etwas Schuld. Nicht so richtig jedenfalls.
Der Sozialarbeiter, der nach Mys Verschwinden vorbeikam, sah das offensichtlich auch so.
Er klang wie ein Roboter mit monotoner Stimme: »Dich trifft keine Schuld, Sebastian.« Und zu Solveig: »Es ist nicht gesagt, dass etwas passiert sein muss, Solveig.«
Sebastian, der seine Mutter besser kannte, wartete nur auf die Explosion. Die kam auch prompt und endete mit einer blutenden Schnittwunde für den Sozialarbeiter. Immerhin hatte Solveig mit der Vase nicht nach ihm geworfen, er schnitt sich erst, als er erschrocken die Scherben vom Boden aufsammelte. Verbal ging sie allerdings nicht zu knapp auf ihn los. Der Sozialarbeiter, der wahrscheinlich geschult war im Umgang mit aggressiven Menschen in Krisensituationen, wiederholte monoton: »Es muss nichts passiert sein.«
Spätestens da drehte sie endgültig durch und warf ihn hinaus. Als ob der Sozialarbeiter daran Schuld gewesen wäre, dass My in der Nacht nach der Party nicht nach Hause gekommen war. Und als wäre es Sebastians Schuld, dass seine große Schwester immer noch nicht zu Hause war, als er sich – ordentlich angetrunken – um vier Uhr morgens in den Flur schlich. Dort schlug ihm derselbe heilige Zorn entgegen, der am folgenden Morgen die Mitarbeiter der Telefonzentrale und der Polizeistation traf.
Aber auch die Polizisten behielten die Ruhe, als die Predigt auf sie niederging.
»Sie ist immerhin neunzehn, Frau Granith. Sie kann auch aus freien Stücken irgendwo anders hingegangen sein. So sind sie eben in dem Alter – erwachsen, aber noch nicht reif genug, um an die Menschen zu denken, die sich Sorgen um sie machen.«
Sebastian wusste, dass die Polizisten seine Mutter als hysterisches Weib betrachteten. Daran war er schon gewöhnt. Einmal hatte er zufällig gehört, wie der Vermieter Solveig als »die Psychotante vom achten Stock« bezeichnete.
Es störte Sebastian nicht besonders, wenn die Leute verächtlich von seiner Mutter sprachen.
Wie viel schließlich Solveigs Hysterie damit zu tun hatte, sagte die Polizei nicht. Aber irgendwann wurde doch eine Suchaktion eingeleitet.
Zuerst sprachen die Beamten mit den Veranstaltern, die alle Personen angeben mussten, die an der privaten Aufführung teilgenommen hatten. Diese Liste deckte natürlich kaum einen Bruchteil der tatsächlichen Gäste ab. Nur ein paar Besucher wurden wirklich angerufen und verhört.
Die Suche in den Wäldern konnte noch am selben Tag beendet werden, da My gefunden wurde. Sie lag nur wenige Kilometer vom Club entfernt, dreißig Meter von der Straße. Ihr Fahrrad lag mit einem Platten im Straßengraben.
Beim zweiten Mal kamen andere Polizisten zu ihnen, ein älterer Mann und eine jüngere Frau. Die Frau sah aus, als hätte sie sich ihre mitleidige Miene aufs Gesicht geklebt. In diesem Moment war Sebastian sicher, dass My tot war.
»Sie ist nicht tot, Frau Granith«, sagte der Mann. »Aber sie ist schwer unterkühlt und bewusstlos. Sie müssen sich auf das Schlimmste gefasst machen.«
Als Solveig sich im Badezimmer eingeschlossen hatte und das langgezogene Heulen von sich gab, das er schon als kleines Kind gehasst hatte, schlich er auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Der ältere Polizist zuckte zusammen, als Sebastian plötzlich auf der Schwelle stand, und räusperte sich verlegen: »Sie hat sich den Kopf angeschlagen und ist bewusstlos ... Es ist nicht sicher, ob sie wieder aufwacht.«
Sie weigerten sich, Sebastian allein zu lassen. Jetzt saß er in einem Zimmer mit gedämpftem grünem Licht. Auf seinen Schultern lagen bleischwer die Hände des Arztes – als wollte er ihn festhalten, für den Fall, dass Sebbe an Flucht dachte. Was er tat.
»Sie ist gestürzt und hat sich den Kopf an einem Stein aufgeschlagen«, erklärte die Frau, die Solveigs Hand hielt.
Wie schon die Polizisten, waren auch die Ärzte zu zweit: Die Frau war älter, während der Mann noch weit unter vierzig zu sein schien.
»Sie ist schwer unterkühlt, weil sie so lange draußen in der Kälte gelegen hat, und durch die Kopfwunde hat sie eine Menge Blut verloren.«
Der Arzt wollte seine Worte erst auf sie wirken lassen. Die Ärztin schien völlig gleichgültig: »Sie ist noch am Leben, ihr Herz schlägt noch. Aber ihr Gehirn funktioniert nicht mehr.«
Sie schob ihren Stuhl näher an Solveigs, und von dem kreischenden Geräusch der metallenen Stuhlbeine auf dem Boden wurde Sebastian schwarz vor Augen.
Hinter
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