Winternacht
Untertreibung.«
Rhiannon nickte. »Ich habe mich vermutlich im Laufe der Jahre an Seltsamkeiten gewöhnt. Meine Mutter hat jede merkwürdige Begebenheit, die sich ereignete, dokumentiert, aber jetzt …« Sie schob sich ein kupferrote Strähne aus dem Gesicht.
Meine Cousine und ich waren wie Feuer und Eis. Mein Haar war schwarz wie die Nacht, glatt und reichte nur bis knapp über die Schultern. Meine Augen waren smaragdgrün, und inzwischen wusste ich, dass sie das Erbe meines Vaters waren. Ich war einszweiundsechzig groß, sechzig durchtrainierte, gut geformte Kilo schwer und muskulös. Rhiannon war groß, gertenschlank und geschmeidig wie eine Tänzerin. Mit ihrem lockigen roten Haar und den nussbraunen Augen war sie Heather wie aus dem Gesicht geschnitten.
Als wir klein waren, hatte Tante Heather uns immer Bernstein und Jet genannt, doch wir bezeichneten uns als Zwillinge. Wir waren am selben Tag auf die Welt gekommen, zur Sommersonnenwende, Rhiannon am Morgen, als der Tag noch wuchs, ich im Mondlicht und in der Jahreshälfte, in der die Tage kürzer wurden. Jetzt waren wir sechsundzwanzig, und ich war mir nicht sicher, ob wir den nächsten Geburtstag noch feiern konnten.
»Wir werden dafür sorgen, dass sie in Frieden ruht, versprochen.« Es war schrecklich, es aussprechen zu müssen, aber ich wusste, dass die Vorstellung von Heather als Vampirin schwer auf ihr lastete.
Luna hatte ihr Gespräch beendet und kehrte zu uns zurück. »Zoey wird kommen, sobald sie kann. Sie wird verdammt viele Regeln brechen müssen, um uns zu helfen, aber sie glaubt, dass es ein paar Schriften gibt, die uns weiterbringen könnten, und sie versucht, sie für uns rauszuschmuggeln. In zwei, drei Tagen will sie hier sein. Keine Ahnung, wie sie es anstellen will, aber ich habe den Verdacht, dass ich das auch gar nicht wissen darf.«
Als sie ins warme Bett zurückkroch, warf ich einen Blick zur Uhr an der Wand. »Geisterstunde ist längst vorbei. Lasst uns endlich schlafen. Und beten wir, dass wir morgen ein Stück weiterkommen. Wenigstens schläft Lannan dann, und ich muss mich nicht mit ihm auseinandersetzen. Ernsthaft: Wenn er ein Mensch wäre, würde ich ihm eine einstweilige Verfügung an den Hals hängen, dass er sich mir nicht mehr nähern darf.«
Peyton prustete los, als Rhiannon und ich uns unter der Decke aneinanderkuschelten, wie wir es als Kinder immer gemacht hatten. Ich hoffte, dass es hier weder Spinnen noch Ratten gab, aber der lange, anstrengende Tag und die Furcht vor dem, was aus dem Haus der Schleier geworden sein mochte, hatte an meinen Kräften gezehrt, und mein Körper forderte den Schlaf nun mit aller Macht ein.
Und als ich im Windschatten hörte, dass Lunas und Peytons Atem tief und gleichmäßig kam, wehte Ulean um Rhiannon und mich herum und hüllte uns sanft in schützende Energie.
Danke. Ich habe Angst .
Ulean wisperte mir ins Ohr. Und es gibt viel, wovor du Angst haben kannst. Die Monster sind unterm Bett hervorgekrochen und machen die Straßen unsicher, und doch gibt es Hoffnung, gibt es Leben. Der Wind beginnt sich zu drehen. Andere werden ihre Unterstützung anbieten. Und unterschätze Lannans Nutzen nicht, nur weil du ihn als Person nicht magst.
Ihre Stimme – das ›sie‹ war willkürlich, denn Elementare haben kein Geschlecht – zwitscherte leise in meinem Ohr und bauschte sich um mich wie ein hauchzarter Stoff. Ich senkte mich in ihren Rhythmus herab und ließ mich von ihr in den Schlaf wiegen.
Cicely, schlaf ein. Träume von den Pfaden, die der Sommer beschreitet. Folge den funkelnden Lichtern, denn sie haben dir viel beizubringen.
Ohne sagen zu können, ob die Worte von Ulean oder meinem Vater oder vielleicht von beiden zugleich stammten, gab ich mich endlich dem Schlaf hin, und ich versank so tief ins Unterbewusstsein, als würde ich mit der Erde verschmelzen.
4. Kapitel
D er Weg erstreckte sich vor mir wie ein goldener Traum. Endlich war der Sommer zurückgekehrt, und ich atmete die Wärme des Tages ein. Das Licht tanzte durch die Luft. Ich streckte den Arm aus, fing einen Sonnenstrahl und führte das leuchtend gelbe Prisma wie ein kostbares Kleinod an mein Herz. Um mich herum erklangen das träge Summen der Bienen und der Ruf des Diademhähers. Als ich für einen Moment meine Augen schloss, überspülte mich die Geborgenheit des Sommers wie eine reinigende Woge.
Das Prisma schickte die Hitze durch meine Hand. Ich blickte hinein in das Licht und sah Rhiannon, groß, strahlend,
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