Winternacht
allerdings immer als ›Glück‹ bezeichnet, weil es wirklich oft so aussah, als hätten sie eben einfach Schwein gehabt.«
In diesem Augenblick kam Rhiannon zurück aus den Waschräumen, und ich nutzte meine Chance. Ich beschränkte mich auf Katzenwäsche, obwohl ich einiges für ein weiteres heißes Bad gegeben hätte, aber ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass Grieve einen halben Abend investiert hatte, um alles zu arrangieren, und ich würde ihn sicher nicht bitten, es noch einmal zu tun. Lieber speicherte ich es unter ›schöne Erinnerungen‹ ab und nahm so lange mit Waschlappen und Seife vorlieb.
Meine Nase lief – langsam machte mir die Dauerkälte zu schaffen –, und ich tupfte Creme auf die wunde Haut. Nachdem ich mir die Haare gebürstet und mich angezogen hatte, blickte ich in den Spiegel. Ich fühlte mich, als wäre ich in den vergangenen zwei Wochen um mindestens zehn Jahre gealtert, und man sah es meinen Augen an.
Ich umklammerte den Rand des Waschbeckens und beugte mich vor. Wie es wohl gewesen wäre, eine ganz normale Kindheit zu haben? Wenn ich Erinnerungen gehabt hätte, an die ich mich hätte klammern können und in denen es nicht darum ging, wegzurennen oder meine Mutter am Leben zu halten?
Ulean pfiff um mich herum. Grieve und Chatter haben dir ein bisschen davon gegeben.
Schon, aber selbst damals war ihr Ziel, mich auf das Leben vorzubereiten, das mir bevorstand. Aber du hast recht, die goldenen Tage vor meinem sechsten Lebensjahr – bevor Krystal mich aus allem rausgerissen hat … ja, die Erinnerung hüte ich wie einen Schatz .
Eine Welle von Bildern stieg vor meinem inneren Auge auf, und ich sah sonnige Tage im grünen Wald, warme Strahlen, die durch das Blätterdach gefiltert wurden, Grieve und Chatter, die uns erklärten, wie Wind und Feuer funktionierten. Ich schloss die Augen und schwelgte einen Moment lang in den Erinnerungen, aber dann riss ich mich zusammen. Wir konnten uns nicht erlauben, uns gehenzulassen.
Mit einem letzten Blick auf mein Spiegelbild straffte ich die Schultern. Der Tag musste angegangen werden. Jede Stunde, die wir verstreichen ließen, war eine Stunde, in der Myst uns ein Stückchen von der Stadt abnehmen konnte. Wir mussten sie aufhalten, was auch immer es uns kosten würde.
Peyton und Luna gingen nach mir in den Waschraum, während Rhiannon und ich den Hauptraum betraten, in dem die anderen mit Ausnahme von Lannan schon warteten. Ich war erleichtert, dass der Tag vampirfrei sein würde, und mir fiel ein, dass ich ihn suchen und im Schlaf würde pfählen können, aber als ich meinen Blick in dem riesigen Lagerhaus umherschweifen ließ, wurde mir sofort klar, wie albern der Gedanke war. Ich hätte den ganzen Tag lang nach ihm suchen können, ohne auch nur eine Spur von ihm zu finden. Lannan war nicht dumm, und er wusste, was ich von ihm hielt.
Rhiannon machte uns zum Frühstück Suppe warm. Kaylin hatte einen Herd angeschlossen, und an einer Wand befand sich ein Becken, das offensichtlich von Arbeitern zum Waschen und Spülen benutzt worden war. Das Becken war rostig, aber breit, und das Wasser lief und war noch immer klar – offenbar hielten die Leitungen stand. Kaylin und Chatter waren gerade dabei, das Feuer in den Tonnen zu schüren, und ich trat nahe heran, um mich aufzuwärmen.
»Morgen. Toast gefällig? Ich habe einen alten Toaster hier. Die Scheiben kriegen zwar immer einen schwarzen Rand, aber wenn man aufpasst, geht’s ganz gut.« Kaylin zeigte auf die Arbeitsfläche neben dem Spülbecken. Tatsächlich sah ich dort Brot, ein Töpfchen Margarine und einen Toaster, der schon bessere Tage erlebt hatte.
»Danke.« Meine Zähne klapperten schon wieder vor Kälte. Ich steckte zwei Scheiben Brot in den Apparat. »Habt ihr schon gegessen?«
Kaylin nickte. »Schon vor einer Weile. Chatter ist im Nebenraum, um neue Zauber zusammenzustellen, und hat uns rausgescheucht, weil er Stille braucht, um sich zu konzentrieren. Wrath ist draußen und geht das Gelände ab. Wir wissen nicht, ob die Schattenjäger noch immer lichtempfindlich sind, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Lainule und Geoffrey ihnen das Gegengift schon verabreicht haben.«
»Wir können nicht einmal wissen, ob sie es überhaupt noch vorhaben. Denk doch mal nach – obwohl der ursprüngliche Erreger den Indigo-Hof definitiv in die falsche Richtung gelenkt hat, ist es Tatsache, dass sie durch die Lichtaggression am Tag kaum zu gebrauchen sind.«
Bis auf Grieve, der nach seiner
Weitere Kostenlose Bücher