Winternacht
Tagen zu einer wahren Zuflucht geworden war. Ich fürchtete mich, ihn zu verlassen, da wir nicht wussten, was draußen alles auf uns warten mochte.
Als wir auf den Highway fuhren – das Lagerhaus befand sich in den Randbezirken von New Forest –, flackerte eine andere Angst in meinem Herzen auf. Was, wenn wir es nicht zurückschafften? Oder wenn wir zurückkehrten und feststellen mussten, dass die Stadt mit Grieve, meinem Vater, Peyton und Rex und Luna nicht mehr existierte? Diese Leute waren meine Familie.
Ich drehte mich auf meinem Sitz um. Rhiannon blickte mich angstvoll an. Ohne dass es Worten bedurft hätte, streckte sie die Hand aus, und wir hielten uns fest.
»Ich liebe dich, Rhia.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich liebe dich auch, Cicely. Dieser ganze Schlamassel, in dem wir stecken, hat ein Gutes: Du bist nach Hause gekommen. Du hast mir so gefehlt.«
Ich kniff die Augen zu und wünschte mit aller Macht die Finsternis und den ewigen Winter, der über uns gekommen war, weg. Was, wenn wir es nicht zurückschafften?
Du wirst noch verrückt werden, wenn du zu viel nachdenkst. Mach dir keine Sorgen – du wirst nach New Forest zurückkommen, und die Stadt wird auch noch existieren. Und Myst auch. Sie wartet. Dies ist ein Schlüsselmoment in der gemeinsamen Geschichte von Vampiren und Feen, und du stehst mitten im Zentrum. Ulean strich mir tröstend über die Wange.
Der Highway Nummer zwei schlängelte sich durch waldiges Land, ein Tal, das sich wie eine breite Schlucht zwischen dem zerklüfteten Vorgebirge der Cascades und, jenseits einer Reihe Hügel und einem Streifen Land im Westen, dem I-5-Freeway mit seinem regen Stadtleben erstreckte. Seattle war grundlegend anders als Los Angeles oder San Francisco oder jede andere Stadt, durch die meine Mutter und ich gezogen waren. In Seattle hätte ich wahrscheinlich glücklich werden können.
Es schneite umso stärker, je weiter wir uns von New Forest entfernten. Wir fuhren in Richtung Osten, auf die Berge zu, aber Mysts Einfluss dehnte sich aus, und in der gesamten westlichen Hälfte des Bundesstaats war ihre eisige Kälte spürbar.
Um die Gedanken an die Winterkönigin aus meinem Bewusstsein zu drängen, konzentrierte ich mich auf das bevorstehende Treffen mit Ysandra. Würde sie sauer sein, weil wir sie angelogen hatten? Oder würde sie es verstehen, wenn wir ihr erst einmal erklärt hatten, was wirklich mit Heather passiert war und warum wir uns eine Geschichte zusammengestrickt hatten? Konnte sie uns helfen? Und wollte sie uns helfen?
Es hat keinen Sinn, sich Sorgen um ungelegte Eier zu machen, Cicely .
Wieder glättete Ulean mein gesträubtes Gefieder. Wir wussten nicht einmal, ob die Hilfe des Konsortiums uns überhaupt etwas nutzen würde. Vielleicht war die Organisation nicht mehr als eine Menge heißer Luft. Oder ein bürokratischer Alptraum. Dennoch mussten wir es versuchen.
Kaylin räusperte sich. »Rhiannon, jetzt, da du das von Leo weißt … wie fühlst du dich?«
Rhiannon stützte die Ellenbogen auf die Lehne meines Sitzes und legte das Kinn in ihre Hände. Nach einem Augenblick stieß sie einen langen Seufzer aus. »Ehrlich? Ich weiß es nicht genau. Es bricht mir das Herz, ja. Es ist furchtbar zu erfahren, dass man eine Lüge gelebt hat, ohne es zu ahnen. Allerdings frage ich mich langsam, ob ich nicht immer schon gewusst habe, dass es nichts mit uns wird. Dass wir nie heiraten würden. Deswegen habe ich auch nie ein Datum festlegen wollen. Leo hat sich über mein Zögern geärgert, aber irgendetwas hat mich immer zurückgehalten. Anscheinend haben meine Instinkte die Illusion durchschaut.«
»Ich bin bloß froh, dass du es herausgefunden hast, bevor es zu spät war.« Ich drehte mich erneut zu ihr um und reckte mich, bis ich ihre Stirn küssen konnte, dann wandte ich mich wieder nach vorn und betrachtete düster die Straße vor uns.
Für Rhiannon war das Thema jedoch noch nicht erledigt. Vielleicht hatte es erst einen Auslöser wie Kaylins Frage gebraucht, um darüber reden zu können. »Aber habe ich es wirklich noch rechtzeitig herausgefunden? Wenn wir Erik glauben können, dann will Leo mich entführen. Ich muss ihn vernichten, wenn ich je frei sein will, denn wenn Leo sich etwas in den Kopf setzt, gibt er nicht auf. Ehrlich: Der Gedanke, dass er mir irgendwo auflauern könnte, macht mir nun, da er ein Vampir geworden ist, eine Heidenangst.«
Sie sagte das so leidenschaftslos, dass mir die Essenz ihres Satzes beinahe entgangen
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