Winternacht
Herzstein bringen, erzählt sie es uns bestimmt.« Doch plötzlich strömte wie ein kalter Windhauch die Erinnerung an die Worte der Sommerkönigin durch mein Bewusstsein. Wenn man ein Leben rettet, trägt man die Last für den Rest seiner Tage.
Vor uns blieb Grieve abrupt stehen. Der Tunnel endete und mündete in eine Kammer. Chatter und Grieve traten langsam ein, und ich ließ Rhiannons Hand los und ging auf den Torbogen zu. Als ich hindurchtrat, verließ mich der Atem und ich sank unwillkürlich auf die Knie, denn was ich sah, war von unvergleichlicher Schönheit, atemberaubender als alles, was ich in meinen bisherigen Leben je gesehen hatte.
Der Saal war riesig und so gewaltig, dass nicht abzuschätzen war, welche Maße er wirklich hatte.
Voller mächtiger Baumwurzeln, Stalagmiten und Stalaktiten, schien er sowohl unterirdische Höhle als auch Hügel zugleich. Bleiche pigmentlose Ranken reichten von den Baumwurzeln herab wie geisterhafte Abbilder von irregeleitetem Efeu.
Die Kletterpflanzen rankten sich um natürliche Steinsäulen und um die Luftwurzeln, die von der Decke ganz hinab in den Boden reichten, und sie schienen zu warten wie blumige Schlangen in den Wipfeln der Bäume. Funkelnde Kristallblumen in Violett, Zartrosa und Peridot sprenkelten die Albinoblätter.
Langsam betrat ich die Halle und blickte mich um, ohne die Schönheit, die sich vor mir entfaltete, wirklich aufnehmen zu können. In der Mitte schimmerte ein See, an dessen Ufer ein Boot befestigt war. Das Boot hatte Platz für sechs Personen und war mit Eichen- und Efeublättern bemalt. Der Duft, der dem Fahrzeug entströmte, verriet uns, dass man es aus einer Zeder gehauen hatte.
Die Wasseroberfläche kräuselte sich in Ufernähe und winzige Wellen schlugen an den Strand. Zunächst dachte ich, dass es sich um weißen Sand handelte, aber als ich näher kam, erkannte ich, dass es unzählige winzige weiße Kiesel waren.
Zu meiner Linken herrschte der Schatten; was zwischen Steinsäulen und Wurzeln war, die ein undurchdringliches Labyrinth bildeten, konnte ich nicht erkennen. Zu meiner Rechten dagegen lag ein weiterer Pfad, der in die Ferne führte.
Ich wandte mich zu Grieve um. Vor Ehrfurcht wagte ich kaum zu atmen. »Wo sind wir?« Meine Worte zerrissen die Stille und klangen lahm in dieser Halle, in der vielleicht zum ersten Mal seit tausend Jahren gesprochen wurde.
Er schüttelte den Kopf. Auch Chatter wusste es nicht.
Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg zu einem herabgefallenen Stalaktiten und ließ mich darauf nieder, um mir darüber klarzuwerden, wie wir weiter vorgehen sollten. Rhiannon gesellte sich zu mir. Sie nahm meine Hand, und wir saßen schweigend da.
Kaylin ging am Wasser in die Hocke und streckte die Hand aus, doch bevor er sie hineintauchte, hielt er verunsichert inne. Wir befanden uns in einer Sackgasse.
Ulean, ich weiß nicht weiter.
Was sagt dein Herz dir?
Dass ich Angst habe. Und mich verloren fühle.
Dann dein Instinkt – was sagt dir dein Bauch?
Ich schloss die Augen und versuchte, an der Angst vorbeizulauschen. Einen Moment lang gab es nur das Gefühl der Verwirrung, dann legte sich ein leises Lachen über meine Ratlosigkeit. Ich lauschte wieder und erkannte plötzlich, dass das Lachen von mir kam … genauer gesagt von dem tätowierten Feenmädchen auf meiner Brust.
Ich hielt den Atem an, als ein Schwall Musik mich durchdrang und mein Fuß unwillkürlich im Takt zu wippen begann. Ich sprang auf, tanzte um den Stalaktiten herum und lachte aus purer Freude über meine Feenstimme laut.
Nun hielt es auch Rhia nicht mehr. Sie kam zu mir, und wir hielten uns an den Händen, lehnten uns zurück und tanzten umeinander im Kreis herum. Ihre Augen funkelten glücklich, und die Jahre verschwanden; wir waren wieder Kinder, die durch den Goldenen Wald tanzten und sich darauf freuten, Chatter und Grieve zu treffen.
Kaylin bewegte sich auf uns zu, aber Grieve hielt ihn an der Schulter zurück und schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht hören, was sie sprachen, aber Kaylin nickte und blieb stehen, wo er war.
Schließlich wurden unsere Schritte langsamer, und wir hielten an. Ich hielt ihr meine Hände mit den Handflächen nach oben hin, und sie legte ihre ohne Druck dagegen. Wir sahen einander in die Augen. Ich begann zu flüstern.
»Wind, Wind, Wind, erhebe dich, komm und sei mein Freund .«
Rhia öffnete den Mund, und ihre Worte strömten in meine. » Feuer, brenne, brenne höher, erhelle mir den Weg .«
»Wind der
Weitere Kostenlose Bücher